Sommer wie Winter
gedacht, jetzt spiel ich Sherlock Holmes. Vielleicht find ich noch Spuren, zerrissene Kleidungsstücke oder hängengebliebene Haare oder alte Blutflecken, wie man das so in den Krimis sieht. Ich habe mir alles ganz genau angeschaut, jeden Balken, den Boden, die Holzwände, alles habe ich mit der Taschenlampe ausgeleuchtet. Während ich so gesucht
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habe, ist mir das Ganze lächerlich vorgekommen. Ich habe mir gedacht: Was machst du da? Es ist fast sechzehn Jahre her, was willst du da noch finden? Sogar einen Lachkrampf habe ich bekommen, so lächerlich habe ich es gefunden, wie ich da mit der dreckigen Taschenlampe vom Stall in jede Ritze von den Holzbalken hineinleuchte.
Aber dann habe ich wirklich was gefunden und ich habe es zuerst gar nicht glauben können. Im letzten Balken ganz hinten im Raum habe ich gesehen, dass was in einer Ritze drinsteckt, die Ritze hat zur Wand geschaut und zwischen Ritze und Wand sind nur ungefähr zehn Zentimeter gewesen.
Es sind lauter so Schnipsel gewesen, zerrissene Schnipsel, ich habe lang gebraucht, bis ich alle draußen hatte. Ich habe gesehen, dass es ein zerrissenes Foto sein muss und ich bin mir sicher gewesen, dass es ein Foto gewesen ist, das einmal Paulina gehört hat. Weil nach ihr hat niemand mehr in der Wohnung gewohnt, das habe ich von Bergers Neffen gewusst.
Ich habe mich auf meinen Schlafsack gehockt und angefangen, das Foto zusammenzusetzen. Wie beim Puzzlebauen bin ich mir vorgekommen und ziemlich nervös bin ich gewesen. Was ist auf dem Foto drauf? Wieso hat sie es zerrissen? Was kriege ich gleich zu sehen?, das habe ich mich die ganze Zeit gefragt. Ich habe in mir gespürt, dass, wenn ich
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das Puzzle fertig habe, ich was wissen werde, was Wichtiges, was, das mir weiterhilft. Ein Foto mit nur sich selber drauf hätte sie ja nicht zerrissen, es muss was oder jemand drauf sein, das oder der ihr Kummer bereitet hat.
Nach einer Weile habe ich gewusst, dass ich die Fototeile aufkleben muss auf ein Blatt Papier, damit ich mehr erkennen kann, die Schnipsel sind so klein gewesen und haben sich aufgewölbt, wie sie da so dagelegen sind. Auf dem Foto sind mehrere Leute gewesen. Ich bin nicht weitergekommen. Ja, nicht weitergekommen und habe trotzdem schon eine Ahnung gehabt, weil ein Gesicht habe ich –, ich habe geglaubt, ich erkenne ein Gesicht, aber irgendwie wollte ich’s nicht wahrhaben. Das kann ja nicht sein, habe ich noch gedacht.
Ich gehe runter zur Werkstatt und frage den jungen Berger, ob er nicht zufällig einen Uhu oder so was Ähnliches und ein Blatt Papier hat. Er hat dann wirklich einen Kleber und ein Papier gefunden. Beim Hinaufgehen in die Wohnung habe ich mir noch gedacht, soll ich das wirklich machen und wieso mache ich das, soll ich nicht einfach heimfahren, sie werden mir den Kopf schon nicht abreißen. Aber gleichzeitig ist da so ein Zwang in mir gewesen, ich habe es einfach wissen müssen. Obwohl ich eigentlich schon gewusst habe, was drauf ist, aber ich habe es nicht verstanden.
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Und dann habe ich die Foto-Puzzleteile aufgeklebt, Stück für Stück, und ich habe geweint, weil ich das Foto gekannt habe. Aber verstanden habe ich es immer noch nicht, absolut nicht verstanden. Es ist so eine Überraschung für mich gewesen! Wieso hat Paulina dieses Foto gehabt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Wie ein Volltrottel bin ich dagesessen und habe versucht meine Gedanken zu ordnen.
In einer Telefonzelle habe ich den Angermair angerufen, aber seine Frau hat gesagt, dass er nicht da ist. Ob sie ihm was ausrichten soll, hat sie gefragt. Ich habe gesagt: Sagen Sie ihm, dass ich in der Wohnung was gefunden hab, was Wichtiges, dann habe ich aufgelegt und bin zum Busbahnhof gelaufen.
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Therapiegespräch im Februar 1990
Dr. B. und Manuela Winter
Ja, am 16. Dezember ist der Alex wieder nach Innsbruck abgehaut. Mich hat er gefragt, ob ich für ihn in den Stall gehe. Ich wollte es ihm unbedingt ausreden. Ich habe Angst gehabt, der Vater kommt drauf und beschimpft ihn nachher wieder! Aber der Alex hat mein Gesicht in seine Hände genommen. Er hat mich richtig angebettelt. So ist er normal nicht, normal ist er sehr ruhig. Da habe ich halt ja gesagt.
Die Eltern haben’s den ganzen Tag nicht einmal gemerkt, dass er weg gewesen ist! Der Alex ist ein Eigenbrötler. Er ist oft bei den Mahlzeiten nicht aufgetaucht. Der Vater ist sowieso meistens drüben in seinem Hotel. Die Mutter hat geglaubt, er ist im Stall oder bei den Maschinen und
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