Sommerbuch
machen. Am gleichen Abend begann es zu regnen, und der Wind ging in Südostwind über. Im Radio sprach man von einem Tief und 6 Beaufort, niemand dachte weiter an die Sache. Doch nachts, als die Großmutter wie immer aufwachte, hörte sie, wie der Platzregen auf das Dach schlug. Die sinkende Stadt fiel ihr ein, sie wurde unruhig. Es stürmte, und zwischen dem Sumpf und dem Meer lag nur eine Strandwiese. Die Großmutter schlummerte wieder ein, wachte wieder auf und dachte an Venedig und Sophia, jedesmal, wenn sie den Regen und die Wellen hörte. Als es hell zu werden begann, stand sie auf, zog ihren Ölmantel über das Nachthemd und setzte ihren Südwester auf.
Es regnete nicht mehr so stark, aber der Boden war ganz naß und dunkel. Nun wird es aber wachsen, dachte die Großmutter abwesend. Sie faßte fest ihren Stock an und tastete sich mit ihm weiter gegen den Wind. Die graue Dämmerung mit langen parallelen Regenwolken, die über den Himmel zogen, sah schön aus. Das Meer war dunkelgrün mit weißen Schaumkronen. Sie erkannte sehr bald, daß die ganze Strandwiese überschwemmt war, und plötzlich sah sie Sophia über den Felsberg laufen. »Es ist gesunken«, rief Sophia. »Alles ist weg .«
Das Spielhaus war offen, die Tür schlug hin und her.
»Geh, leg dich schlafen«, sagte die Großmutter. »Zieh dir das Hemd aus, es ist ja ganz naß, und mach die Tür zu und leg dich hin. Ich werde den Palast schon finden. Ich verspreche es dir, ich finde ihn .«
Sophia weinte mit offenem Mund, hörte nicht zu.
Schließlich mußte die Großmutter sie zum Spielhaus bringen, um sicher zu sein, daß sie sich hinlegte. »Ich werde den Palast finden«, wiederholte sie. »Hör auf zu heulen und schlaf .« Sie machte die Tür zu und ging.
Als die Großmutter wieder ans Ufer kam, sah sie, daß sich der Sumpf in eine Bucht verwandelt hatte. Die Wellen schlugen hoch im Heidekraut und zogen sich wieder zurück aufs Meer, und die Erlen standen weit draußen im Wasser. Venedig war im Meer versunken.
Die Großmutter blieb lange stehen und schaute, bevor sie ins Haus zurückging. Sie zündete die Lampe an, nahm ihr Werkzeug vor und ein schönes Stück Balsaholz. Sie setzte die Brille auf.
Um sieben Uhr war der Dogenpalast fertig, gerade als Sophia an die Tür klopfte.
»Warte einen Augenblick«, sagte die Großmutter, »der Riegel ist vorgeschoben .«
»Hast du die Stadt gefunden ?« rief Sophia. »War sie noch da ?«
»Aber ja«, antwortete die Großmutter. »Alles war noch da .« Der Palast sah viel zu neu aus, der hatte keine Überschwemmung mitgemacht !« Rasch nahm die Großmutter ein Wasserglas und goß es über den Dogenpalast, sie nahm etwas Asche in die Hand und rieb damit Kuppeln und Fassaden ein, und die ganze Zeit über rüttelte Sophia an der Tür und rief, daß sie hinein möchte. Die Großmutter öffnete und sagte: »Wir haben Glück gehabt !«
Sophia untersuchte den Palast sehr genau. Sie stellte ihn auf das Nachttischchen und sagte nichts.
»Ganz wie es sein soll, nicht wahr ?« fragte die Großmutter ängstlich.
»Still«, flüsterte Sophia. »Ich möchte hören, ob sie noch da sind .«
Sie lauschten lange. Dann sagte Sophia: »Du kannst ruhig sein! Die Mutter sagte eben, es sei ein schreckliches Unwetter gewesen, aber jetzt, danach, müßte sie aufräumen, und daß sie sehr müde sei .«
»Das kann ich verstehen«, sagte die Großmutter.
Flaute
Sehr selten ist es so windstill, daß sich ein kleines Boot mit einem Außenbordmotor zum Steinrück wagen kann, der letzten Schäre im Finnischen Meerbusen. Es dauert mehrere Stunden, und man muß für den ganzen Tag Essen mitnehmen. Steinrück ist eine langgestreckte Schäre, und von weitem sieht sie wie zwei Inseln aus, zwei glatte Buckel mit einem Seezeichen auf dem einen und einem kleinen Leuchtturm auf dem anderen. Aber alte Steinhaufen gibt es dort nicht. Wenn man näher herankommt, sieht man, daß die Steinrücken wirklich glatt sind wie Seehunde und daß sie einen langen schmalen Landstreifen aus Geröll zwischen sich haben. Die Geröllsteine sind kugelrund.
Das Meer war blank wie Sonnenöl, aber blaßfarben und nicht blau, wie es eigentlich ist. Die Großmutter saß im Boot unter einem violetten Sonnenschirm. Sie haßte violett, aber es gab nichts anderes, und im übrigen war die Farbe hübsch und genauso hell wie das Meer. Der Sonnenschirm machte, daß sie wie gewöhnliche Touristen aussahen. Aber das waren sie nicht.
Die Familie ging an Land, so
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