Sommerbuch
gesteckt.
Sophia fragte, warum alle Häuser im Wasser stehen, und ihre Großmutter erzählte ihr alles über Venedig und wie es allmählich ins Meer sinkt. Sie war selbst dort gewesen. Sie dachte an ihre Reise nach Italien, und das erfrischte sie. Sie erzählte immer mehr. Manchmal versuchte sie von anderen Orten zu erzählen, die sie gesehen hatte, aber Sophia wollte nur über Venedig hören, und besonders über die dunklen Kanäle, die faulig und nach Abfall rochen und die die Stadt jedes Jahr ein wenig mehr in den Schlamm zogen, hinab in den schwarzen weichen Morast, in dem goldene Teller begraben lagen.
Wie aufregend, wenn man die Teller nach dem Essen einfach durchs Fenster wirft, und in einem Haus zu wohnen, das seinem Untergang entgegensinkt.
»Guck mal, Mama«, sagte die schöne Venezianerin, »heute steht die Küche unter Wasser .« — »Liebes Kind, das macht nichts«, antwortete die Mutter. »Wir haben ja noch den Salon .« Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten, stiegen in ihre Gondel und ruderten durch die Straßen. In der ganzen Stadt gab es kein Auto, die waren längst im Schlamm versunken, man hörte nur Schritte über die Brücken, und die Leute wanderten und wanderten die ganze Nacht durch. Hin und wieder hörte man ein wenig Musik und manchmal ein ächzendes Geräusch, wenn sich irgendein Palast setzte und tiefer sank. Und überall roch es nach Schlamm.
Sophia ging zum Sumpfloch, das unter den Erlen blank und schwarzbraun war. Sie grub durch das Moor und die Heidelbeerbüsche einen Kanal, ihr Ring war aus Gold und hatte einen roten Rubin. »Mama, mein Ring liegt im Kanal .« — »Liebes Kind, das macht nichts, wir haben den Salon voll von Gold und Edelsteinen .«
Sophia ging zu ihrer Großmutter und sagte: »Wenn du mich liebes Kind nennst, nenne ich dich Mama .«
»Aber ich bin doch deine Großmutter«, antwortete die Großmutter.
»Liebe Mami, das ist doch nur ein Spiel«, erklärte Sophia.
»Mami, sollen wir spielen, daß du meine Großmutter bist? Ich bin dein liebes Kind aus Venedig und ich habe einen Kanal gebaut .«
Die Großmutter stand auf und sagte: »Ich weiß ein besseres Spiel. Wir sind alte Venezianer und bauen ein neues Venedig .«
Sie bauten in dem Sumpf. Sie bauten die Piazza San Marco auf, indem sie eine Menge kleine Holzstifte als Stützen einrammten, die sie mit vielen flachen Steinen bedeckten. Sie machten mehrere Kanäle und bauten Brücken darüber. Die großen Waldameisen spazierten auf den Brücken hin und her, und unter den Brücken glitten die Gondeln im Mondschein dahin. Sophia sammelte am Strand weißen Marmor. »Guck mal, Mama«, schrie sie. »Ich habe einen neuen Palast entdeckt .«
»Aber liebes Kind, ich bin doch die Mutter von deinem Vater«, sagte die Großmutter.
»Ach so«, rief Sophia. »Aber warum soll bloß er Mama sagen dürfen ?«
Sie warf den Palast in den Kanal und ging.
Die Großmutter setzte sich auf die Veranda und machte einen Dogenpalast aus Balsaholz. Als er fertig war, malte sie ihn mit Wasserfarben und Gold an. Sophia tauchte auf und guckte zu.
»Hier«, sagte die Großmutter, »wohnen eine Mama und ein Papa mit ihrem Kind, hinter diesem Fenster. Das Kind hat eben das Mittagsgeschirr durchs Fenster geworfen, und es ist auf der Piazza in Scherben gegangen, denn es war aus Porzellan. Was wohl die Mutter gesagt hat ?«
»Ich weiß, was sie gesagt hat«, antwortete Sophia, »sie hat gesagt: Liebes Kind, glaubst du denn, ich habe werweiß wieviel Porzellan !« — »Und was sagt das Kind?«
Es sagt: »Liebe Mami, ich verspreche dir, ich werde nur noch Teller aus Gold werfen !«
Sie stellten den Palast neben die Piazza, und Vater, Mutter und Kind wohnten weiter dort. Die Großmutter machte noch mehr Paläste. In Venedig zogen viele Familien ein und riefen einander über die Kanäle zu: »Wieviel seid ihr gesunken ?« — »Ach, das ist nicht so schlimm. Meine Mutter hat gesagt, es sind nicht mehr als 30 cm .« — »Was kocht deine Mutter heute zu Mittag? Meine kocht Barsche...«
Nachts schliefen alle dicht beieinander, und man hörte das Trippeln der Ameisen auf den kleinen Brücken.
Die Großmutter interessierte sich immer mehr für den Bau. Sie machte ein Hotel und eine Trattoria und einen Campanile mit einem kleinen Löwen drauf. Ihr fiel ein, wie die Straßen hießen, denn es war lange her, daß sie dort gewohnt hatte.
Eines Abends saß im Canal Grande eine grüne Wassereidechse, und der Verkehr mußte einen langen Umweg
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