Sommerbuch
bekamen eine Kaulquappe ins Netz. Ein schwarzer Schmetterling flog ins Haus und setzte sich auf den Spiegel, und gegen Abend lagen Messer und die Zeichenfeder auf Vaters Tisch überkreuz. Sophia rückte sie so schnell sie konnte auseinander, aber getan war getan! Sie lief zum Gästezimmer und hämmerte mit beiden Händen an die Tür, die Großmutter öffnete sofort.
»Es ist was geschehen«, flüsterte Sophia. »Das Messer und die Zeichenfeder lagen auf Vaters Tisch überkreuz. Nein, sag nichts, du kannst mich nicht trösten .«
»Aber verstehst du denn nicht? Meine Großmutter war doch nur abergläubisch«, sagte Sophias Großmutter. »Sie hat sich doch nur immer was ausgedacht, weil sie Langeweile hatte, und um ihre Familie zu tyrannisieren .«
»Still«, sagte Sophia ernst. »Sag nichts. Sag nichts zu mir .« Sie ließ die Tür offen und ging.
Die erste Abendkühle war gekommen, und die tanzenden Motten waren verschwunden. Die Frösche machten sich bemerkbar und fingen an, füreinander zu singen, die Libellen waren vermutlich gestorben. Am Himmel sanken die letzten roten Wolken ins Gelb und verfärbten sich dann orange. Der Wald war voller Zeichen und Ahnung, er hatte überall seine geheimnisvolle Sprache. Aber was half das dem Vater? Spuren dort, wo niemand gegangen sein konnte und überkreuz liegende Zweige, ein einziger roter Blaubeerenstrauch inmitten von allen grünen! Der Mond ging auf und balancierte auf der Spitze des Wacholderstrauches.
Nun glitten die Boote von ihren Ufern. Große geheimnisvolle Fische machten Ringe im Wasser, und die roten Spinnen versammelten sich dort, wo sie sich zum Treffen verabredet hatten. Hinter dem Horizont saß das unerbittliche Schicksal und wartete. Sophia suchte Kräuter, um für ihren Vater einen Absud zu kochen, aber sie konnte nur ganz gewöhnliche Kräuter finden. Es ist unsicher, was man eigentlich als Kräuter bezeichnen kann. Wahrscheinlich sind sie sehr klein, mit weichen und blassen Stielen, am liebsten verschimmelt, und sie wachsen an sumpfigen Stellen. Wie soll man es wissen?
Der Mond stieg immer höher und begann seine unabänderliche Bahn.
Sophia schrie durch die Tür: »Was für Kräuter hat sie gekocht, diese andere Großmutter ?«
»Das habe ich vergessen«, antwortete Sophias Großmutter.
Sophia kam herein. »Vergessen ?« sagte sie zwischen den Zähnen, »vergessen? Wie kannst du so was vergessen? Was soll ich denn machen, wenn du das vergessen hast? Wie soll ich ihn retten, bevor der Mond untergeht? !«
Die Großmutter legte ihr Buch beiseite und nahm die Brille ab.
»Ich bin abergläubisch geworden«, sagte Sophia. »Noch viel abergläubischer als deine Großmutter. Tu was !«
Daraufhin stand die Großmutter auf und zog sich an.
»Laß doch die Strümpfe«, sagte Sophia ungeduldig. »Auch kein Korsett, wir haben es jetzt eilig !«
»Wenn wir jetzt die Kräuter sammeln und einen Absud kochen, er wird es doch nicht trinken .«
»Das ist wahr«, gab Sophia zu. »Vielleicht kann man es ihm ins Ohr träufeln ?«
Die Großmutter zog die Stiefel an und dachte nach. Plötzlich begann Sophia zu weinen. Sie sah den Mond über dem Meer, und mit dem Mond kannte man sich nie so genau aus. Er könnte ja ganz plötzlich und zu seinen eigenen Zeiten untergehen! Die Großmutter machte die Tür auf und sagte: »Jetzt dürfen wir kein Wort sprechen. Du darfst nicht niesen, nicht weinen oder aufstoßen, nicht ein einziges Mal, bevor wir nicht alles, was wir brauchen, zusammengesammelt haben. Dann legen wir alles auf den sichersten Platz, den es gibt, und lassen es von da wirken. Das geht sehr gut in diesem Fall .«
Die Insel war hell im Mondschein, und die Nacht war ganz warm. Sophia sah, daß die Großmutter den Kopf einer Strandnelke pflückte, sie fand zwei kleine Steine, ein Büschel trockenes Seegras und stopfte alles zusammen in die Tasche. Sie gingen weiter. Im Wald drinnen sammelte die Großmutter ein bißchen Baummoos, ein wenig Farnkraut und einen toten Nachtschmetterling. Sophia sagte nichts und folgte ihr. Jedesmal, wenn die Großmutter etwas in ihre Tasche steckte, wurde sie ruhiger. Der Mond war ein wenig rot und fast so hell wie der Himmel, darunter lief die Lichtstraße des Mondes bis ans Ufer hinab. Sie gingen quer über die Insel zur anderen Seite, hin und wieder beugte sich die Großmutter über den Boden und fand etwas Wichtiges. Sie wanderte auf der Lichtstraße weiter geradeaus, groß und schwarz, ihre steifen Beine und der Stock
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