Sommerferien in Peking
einfach, wie du denkst. Wir können in den Sommerferien nicht so lange Urlaub nehmen.«
Ich unterbreche sie schnell: »Müsst ihr auch nicht. Ich habe doch gesagt, dass ich allein nach Peking fliegen will!«
Mama seufzt und schaut mir direkt in die Augen. Ihre Stimme ist jetzt zärtlich und leise: »Lisa, du weißt, dass deine ehemalige Schule in Peking dann auch Ferien hat. Niemand in deiner Schule wird da sein.«
Sie weiß, wie ich meine ehemalige Schule vermisse. Sie weiß auch, dass Ms Welsen aus Australien meine Lieblingslehrerin war. Ich senke meinen Blick auf den Teller und presse meine Lippen fest zusammen. »Dann eben keine Schule. Aber ich will zumindest Lao Lao und Lao Ye in Peking besuchen«, sage ich entschlossen.
Papa räuspert sich und fängt vorsichtig an: »Na ja, die Idee ist nicht schlecht, aber ... »
Ich stopfe mir die Ohren zu und sage hastig: »Kein ›Aber‹. ›Aber‹ ist nie gut!«
»Lisa!« Mamas Ton klingt diesmal sehr bestimmt. Dann folgt ein Blick, der »Schluss jetzt!« heißt. Ich kenne solche Blicke von Mama und weiß, dass sie auch sehr streng werden kann. Am liebsten hätte ich geschrien: »Es ist so unfair! Du musst doch wissen, wie ich Lao Lao und Lao Ye vermisse!« Aber stattdessen greife ich nach meinem Wasserglas und trinke einen Schluck. Meine Hand zittert dabei ein wenig – und plötzlich fällt mir wieder etwas ein.
Ich sage beschwörend: »Ich kann auch in Peking viel besser Chinesisch üben als am Samstag in deiner Chinesisch-Schule, wo wir jedes Mal nur ein paar Sätze lernen. Das ist viel zu leicht. Außerdem sprechen alle Kinder nach dem Unterricht wieder nur Deutsch miteinander.«
Ich schwöre, Mama ist von meinem Argument schon überzeugt. Das kann ich an ihrem Lächeln sehen. Sie gibt es nur noch nicht zu. Aber so sind die Erwachsenen halt.
Seit wir von Peking nach Deutschland gezogen sind, versucht Mama eifrig, mir Chinesisch beizubringen. Irgendwann kam sie auf die Idee, eine Chinesisch-Schule zu gründen, wo Kinder am Samstagvormittag Chinesisch lernen können. Am Anfang sind nur fünf Kinder von Mamas Freunden zum Unterricht gekommen und das Klassenzimmer war einfach unser Wohnzimmer. Jetzt sind wir schon 15 Kinder und unser Wintergarten ist als Klassenzimmer langsam zu klein. Es wäre eine Katastrophe für Mama, wenn ich später keine schönen chinesischen Bücher lesen könnte.
»Ich will auch nach Peking fliegen!«, schreit plötzlich Ricky, den wir fast vergessen haben. Oh nein!
»Du bist noch zu klein dafür. Du bist doch noch ein Baby!«, sage ich genervt.
Ricky starrt mich mit großen Augen an und schreit noch lauter: »Mama, Lisa sagt, ich bin ein Baby!«
Mama wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu und tröstet ihn: »Nein, du bist natürlich kein Baby, sondern ein großer Junge, der schon Scooter fahren kann!«
»Ja, du bist nämlich der Scooterman!«, kommt Papa jetzt dazu.
»Scooterman?« Ricky guckt irritiert zu Mama. Er ist gerade von Spiderman begeistert und wünscht sich vom Weihnachtsmann nichts sehnlicher als ein Spiderman-Kostüm.
Mama lenkt ein: »Ja, Scooterman. Der beste Freund von Spiderman. Weißt du, es war einmal ...«
Da ist mein Chance vorbei. Wenn Mama mit so ausgedachten Geschichten anfängt, dann kann sie ohne Ende erzählen.
»Über die Chinareise reden wir später«, sagt Papa nur knapp. Ich wollte noch protestieren, doch meine Eltern lassen keinen Widerspruch mehr zu. Mama hätte vielleicht gleich zugestimmt – wenn Ricky nicht gestört hätte. Manchmal ist es ganz schön anstrengend, einen kleinen Bruder zu haben.
Als Papa mich und Ricky später ins Bett bringt, erzählt er mit großer Begeisterung: »Heute hat der Vollmond die geringste Entfernung von der Erde. Deswegen ist er auch 30 % heller und 14 % größer als normalerweise und wird auf Englisch ›perigee moon‹ genannt.« Papa hat in England studiert und weiß eben alles, auch zum Beispiel, dass der Leshan Buddha 71 Meter hoch ist und vor über 1 000 Jahren von einem chinesischen Mönch gebaut wurde.
In der Nacht wälze ich mich lange im Bett herum. Der Mond ist heute Abend wirklich so hell und groß, dass ich alles in meinem Zimmer genau sehen kann. An der Wand hängt der rote Libellendrachen, den wir von Peking mitgebracht haben. Er schaut mich mit seinen großen Augen an, als wollte er sagen: »Ich weiß, was dein Herzenswunsch ist.«
Woher sollte er das wissen? Ich wundere mich. Ich habe doch selbst erst jetzt gemerkt, dass ich nach China zu
Weitere Kostenlose Bücher