Sommerferien in Peking
konnte es nicht fassen. So ist meine Mama eben. Sie weint manchmal auch, wenn sie im Fernsehen die Nachrichten schaut. Also, wenn es irgendwo Erdbeben gibt oder wenn Eltern zum Beispiel ihre verschwundenen Kinder wiedergefunden haben.
Ich schlug mein Heft auf und tat so, als ob ich meine Hausaufgaben machen würde. Die Aufgaben waren nichtschwer, aber ich musste die Schreibschrift noch nachholen. Ich hörte zu, wie Mama am Telefon für morgen einen Besuch bei Emily organisierte. Bestimmt war Emilys Mama am Telefon, weil Mama jetzt sagte: »Emily kann auch jederzeit zu uns kommen. Das nächste Mal mache ich ein paar Flühlingslollen für die Kinder.« Dann lachte sie und legte den Hörer auf.
Ich seufzte. Wie peinlich, dass Mama einfach nicht »Frühlingsrolle« sagen konnte.
Mama summte ein Lied und holte Stäbchen aus dem Geschirrspüler. Im Wohnzimmer stapelten sich noch immer die Umzugskisten fast bis zur Decke, aber die Küche sah schon ziemlich ordentlich aus.
Ich fragte Mama beiläufig: »Mama, warum essen wir mit Stäbchen statt mit Gabel und Messer?«
Mama räumte weiter den Geschirrspüler aus und sagte: »Das stimmt nicht. Nur Papa und du esst mit Stäbchen. Ich und Ricky essen meistens mit dem Löffel, weil es schneller geht. Obwohl, ich muss sagen: Das Essen mit Stäbchen fordert das Gehirn heraus – durch die Koordination der Fingerbewegungen. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Als ich vier Jahre alt war, konnte ich plötzlich mit Stäbchen essen. Meine Eltern hatten sich sehr gewundert, als ich eines Tages eine Schüssel Nudeln mit Kinderstäbchen geleert habe, so als ob ich das immer schon getan hätte.
»Vielleicht liegt es ihr einfach im Blut«, freut sich Mama seitdem jedes Mal, wenn sie mit jemandem darüber redet.
»Mama, warum machen wir Taiji, statt Fußball zu spielen?«, versuchte ich es mit einer weiteren Frage. »Das stimmt auch nicht. Papa macht Taiji und ich spiele meistens Fußball.« Mama konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit.
Ich seufzte laut. Sie hatte recht: Papa beschäftigte sich schon seit seinem Studium in England mit Taiji-Übungen und Mama liebte es, Fußball zu spielen. Sie kickte sehr oft mit uns und auch mit den Nachbarskindern auf dem Fußballplatz hinter der Schule. Warum nur waren meine Eltern so ... untypisch? Schließlich war doch Papa Deutscher und Mama Chinesin.
»Mama, bin ich eine Chinesin?«, fragte ich schließlich.
»Warum?« Mama hörte diesmal auf, den Geschirrspüler weiter auszuräumen, und musterte mich prüfend.
»Na ja, die Kinder in meiner Klasse haben mich gefragt, woher ich komme. Ich bin Deutsche, habt ihr mir doch mal gesagt. Aber sie glauben mir nicht. Ich habe doch schwarze Haare – wie du.«
Mama sagte: »Na und? Dann kannst du deinen Freunden sagen: Ich habe eine chinesische Mama und deswegen habe ich schwarze Haare. Ich habe einen deutschen Papa und bin in Deutschland geboren. Deswegen habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft.«
Ehrlich gesagt, ich wusste am Anfang gar nicht, dass ich in Deutschland geboren wurde. Aber der Kindergarten, den ich als kleines Kind besucht habe, bevor wir nach Chinagegangen sind, liegt nur ein kleines Stück von unserem Haus entfernt. Und Ricky geht jetzt auch dorthin.
Was ist eigentlich Staatsbürgerschaft? Warum machen die Erwachsenen alles so kompliziert? Mama sagte einmal beim Abendessen: »Nationalität ist nicht wichtig.« Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Warum streitet Mama mit Papa darüber, welche Mannschaft gewinnen soll, wenn China gegen Deutschland Fußball spielt?
In dem Spiegel gegenüber der Küche glänzten meine frisch geschnittenen schwarzen Haare. Meine dunklen Augen waren mandelförmig, fast so wie Papas.
Wir hatten an diesem Tag Theater-AG und ich wollte die Rolle der Annika in Pippi Langstrumpf spielen. Doch alle meinten, dass ich nicht so aussehen würde, wie Annika aussehen sollte. Auch Emily schaute mich mitleidig an. »Na ja ...«, meinte sie nur und ich wusste, was sie damit sagen wollte.
Mir war früher gar nie aufgefallen, dass ich so anders aussehe als die anderen. Früher waren in meiner Klasse Kinder aus Korea, Italien, Holland, den USA, Südafrika ... und wir sahen alle unterschiedlich aus. Jetzt sind wir fast nur deutsche Kinder. Es gibt bloß noch ein Mädchen in der vierten Klasse, das ziemlich dunkle Haut hat.
Als ich daran dachte, wie ein Junge in der Pause dann auch noch seine Augen mit den Fingern schmal gezogen und laut ein komisches Lied
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