Sommerferien in Peking
nichts von Tobi wussten!
»Einfach nur so«, antwortete ich schnell, »weil wir das ganze Projekt schon geplant haben.«
Na ja, ich musste eben ein bisschen lügen, damit ich Papa nicht verletzte. Besser so, als zu erzählen, dass die Kinder in meiner Schule ihn komisch fanden. Und ganz falsch war es auch nicht, denn wir hatten noch jede Menge Spiele eingeplant. Zum Beispiel einen Stäbchen-Wettbewerb, denich mir ausgedacht hatte. Die Kinder sollten mit den Stäbchen so schnell wie möglich 20 gebratene Erdnüsse aus einer Schale herausholen. Wer es zuerst schaffte, bekam einen Preis – einen Glückskeks aus dem Asienladen.
Der Höhepunkt der Projektwoche war das Abschlussfest. Die ganze Schule machte mit und auch die Eltern. Jede Klasse stellte ein Land dar, das von den Schülern der Klasse präsentiert wurde. Stell dir mal vor, man konnte zum Beispiel in ein paar Sekunden von Australien (Klasse 4a) zu Italien (Klasse 4b) hinüberspazieren! Und zwar ohne Pass und Visum und solchen Erwachsenenkram!
Bei mir, in der Klasse 2b, feierten wir das chinesische Neujahrsfest, auch Frühlingsfest genannt, den wichtigsten chinesischen Feiertag. Er leitet nach dem chinesischen Mondkalender das neue Jahr ein, so wie Silvester in Deutschland. Fast alle Chinesen haben da normalerweise zwei Wochen frei.
Wir hatten das Klassenzimmer mit roten Laternen und meinem roten Libellendrachen geschmückt. Der war größer als alle Schüler aus meiner Klasse.
Mama war von uns eingeladen worden, um eine alte chinesische Legende vom Frühlingsfest zu erzählen. Sie saß in einem breiten Sessel in der Kuschelecke und alle Besucher in »China« saßen um sie herum.
»Es war einmal ein Menschen fressendes Monster, das ›Nian‹, also ›Jahresmonster‹ hieß. Jedes Jahr, wenn es ausseinem Tiefschlaf erwachte, stieg es von den hohen Bergen herunter und kam ins Tal, um seinen Hunger zu stillen. Keiner konnte das Monster stoppen. Selbst der stärkste Held Chinas wurde von Nian aufgefressen. Der Kaiser machte sich große Sorgen. Doch eines Nachts träumte er von einem kleinen Kind auf einer weißen Lotusblüte. Das Kind bekundete dem Kaiser, dass die Menschen Lärm und Feuer machen sollten und alles rot einfärben müssten. Davor hätte das Jahresmonster Angst. Und nur so könnten sie sich vor ihm schützen.
Das hat dann tatsächlich auch funktioniert. Und deswegen zünden wir bei Frühlingsfesten immer Feuerknaller an – je lauter, desto besser. Die Vertreibung des Monsters wird übrigens ›Guo Nian‹ genannt. Das bedeutet ›Weggehen des Nian‹, des Jahresmonsters, und damit ist auch das Verstreichen des alten Jahres gemeint und das Neujahrsfest selbst ...«
Das war vielleicht die hundertste Variante, die ich von Mama kenne, aber ich fand sie trotzdem schön. In der Originalgeschichte war das Kind auf dem Lotus zwar ein alter Mann mit weißem, langem Bart, doch es hätte viel schlimmer kommen können: Als Mama uns letztes Mal die Geschichte erzählt hat, war der alte Mann einfach Ricky, der Scooterman.
Nach der Lesung bot Mama den Kindern selbst gemachte Frühlingsrollen an.
»Eine Flühlingslolle oder zwei?«, fragte Mama Emily.
Hinter Emily warteten mindestens noch zehn weitere Kinder. Als Mama zwei Frühlingsrollen auf Emilys Teller legte, flüsterte ich ihr ins Ohr: »Mama, Frühlingsrolle, nicht Flühlingslolle.«
»Oh.« Mama sah mich völlig verdattert an und ich war etwas verlegen. Ich hätte am liebsten gleich gesagt: »Mama, ich will dir nur helfen«, aber ich hatte einen Kloß im Hals und brachte nichts mehr heraus.
»Wie heißt Frühlingsrolle auf Chinesisch?«, fragte Emily und unterbrach die unangenehme Stille. Emily war immer so neugierig, genau wie ich. Mama sagt, das ist eine gute Eigenschaft. Mama hockte sich nieder und grinste Emily an. »Chū n Juǎ n«, sagte sie langsam und deutlich. Danach korrigierte sie Emily noch zweimal. Sie lobte meine Freundin zum Schluss. »Super gemacht! Du hast wirklich Talent dazu, Chinesisch zu lernen.«
Ich setzte mich auf eine Bank gegenüber und schaute Mama besorgt an. War sie sauer?
Mama fragte das nächste Kind: »Möchtest du auch eine Frühlings-r-o-l-l-e?« Beim Aussprechen des letzten Wortes war Mama vorsichtig und konzentriert. Als sich unsere Blicke wieder trafen, machte sie gleich ein lustiges Gesicht – so wie eine ungeschickte Kellnerin, die gerade fünf Teller auf den Boden fallen gelassen hatte. Ich musste lächeln. Mama legte ihren Kopf schief und schaute
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