Sommerfest
gesagt hat, das sei das Richtige fürihn, weil er sich viel zu schnell verliebe. »Deine Gefühle«, hat sie gesagt, »fahren ständig Schlitten mit dir, ob Schnee liegt oder nicht. Es bringt dir nichts, wenn du Geschichte und Sozialkunde auf Lehramt studierst.« Dann hat sie noch gesagt, wie gut er ihr als Werther im Schultheater gefallen habe, und Stefan erinnerte sich daran, wie leicht ihm das gefallen war.
Er bleibt stehen und lehnt sich an eine raue, warme Hauswand. Charlie hat mich gemacht, denkt er, aber das ist natürlich viel zu theatralisch, nur, was bin ich für ein Schauspieler, wenn ich Theatralik misstraue? Eigentlich, denkt er, kann man die Frage auch beenden nach: Was bin ich für ein Schauspieler? Oder einfach nur: Was bin ich für einer? Auf jeden Fall einer, der ständig Angst hat, dass irgendwann mal einer rausfindet, dass er eigentlich nichts kann. Andererseits, denkt er, haben sie das doch schon. Die schlauen Kritiker, die ihm erst großes Talent und emotionale Wahrhaftigkeit bescheinigten, irgendwann aber meinten, man nehme ihm seine Rollen nicht mehr ab. Gut, das waren nur einzelne, aber man erinnert sich immer besonders gut an die, die einen mit Dreck beworfen, und nicht so gut an die, welche einem Lorbeerkränze geflochten haben. Beide, denkt er, haben letztlich keine Ahnung von dir und dem, was du tust.
Er hat die Schnauze so voll von alledem. Aber dass sie seinen Vertrag nicht verlängert haben, ist schon eine Sauerei.
Zehn Jahre hat er Charlie nicht gesehen, aber es fühlt sich gar nicht so an. Mit den Schultern stößt er sich von der Wand ab und geht zurück auf den Hof des stillgelegten Sanitärfachbetriebes, wo die anderen mit dem langhaarigen Polen zusammenstehen, der sich als Marek vorstellt,sich bückt und aus einem Kasten eine etwas zu warme Bügelflasche nimmt und sie Stefan in die Hand drückt. Marek redet nicht über das Stück oder seinen Text, sondern gibt gerade einen Abriss des Lebens von Gregorz Lato, dem polnischen Torschützenkönig der WM 1974, der das goldene Tor im Spiel um den dritten Platz erzielte, gegen Brasilien, und was war das für eine Mannschaft, die polnische damals!
»Boniek!«, sagt Stefan, aber Marek schüttelt den Kopf.
»Boniek hat sein erstes Länderspiel erst 1976 gemacht.«
Und dann kommen sie auf polnische Fußballer hier in der Gegend zu sprechen, Männer, die mit Mitte zwanzig schon wie Greise aussahen, weil sie vorher durch die Erde gekrochen sind, um schwarze Steine aus ihr rauszukloppen, und als Marek einen Arm um Stefan legt und ruft: »Ihr seid alle Polen!«, fragt sich Stefan, ob er jetzt Wodka aus Wassergläsern mit Marek trinken muss, oder ist der Pole nicht so wodkafixiert wie der Russe?
Im Kopf fahndet Stefan nach Polen, die er kennt. Das dürfte doch eigentlich nicht so schwer sein, die Polen gaben sich doch hier früher die Spitzhacke und den Presslufthammer in die Hand, aber als Erstes fallen ihm die ganzen westfälischen Namen ein, mit denen er aufgewachsen ist, also die Horstkämpers und Tenholts und Ellbringes, Borchardts und Zöllners, aber dann natürlich auch die Stareks und Rogowskis und Koslowskis und, vor allem, die Abromeits, die aus Masuren kamen, was Stefan nicht nur wieder zu Charlie bringt, sondern zu Siegfried Lenz und seinen masurischen Geschichten, mit denen Stefan in München mal eine Lesung gemacht hat, die granatenmäßig angekommen ist, weil es aber auch einen Riesenspaß machte, diese Sache vorzulesen, die Geschichten von dem Holzfäller, der heimgesucht wurde von der Liebe, oder dem Leseteufel Hamilkar Schaß, der mit seiner literarischen Leidenschaft den plündernd und brandschatzend durch Masuren ziehenden General Wawrila komplett entnervt. Die Gedanken sind so verdammt frei, denkt Stefan, die schießen herum wie Flipperkugeln.
Um mal wieder ein wenig Ordnung in die Geschichte zu bekommen, fragt er Marek, ob er ihm nicht ein bisschen von seinem Text erklären könne, aber das empfindet der polnische Dichter fast schon als Beleidigung, mindestens aber als eine Lächerlichkeit, womit er natürlich recht hat, weil solche VHS – Fragen immer richtig peinlich sind. Also fragt er Marek lieber, wo in Polen er denn herkomme, aber das will der nicht sagen, sondern fordert Stefan auf, möglichst bald mit ihm ins Stadion zu gehen. Ganz enttäuscht ist er, als er hört, dass Stefan in München wohnt, weil die dortige Arena nicht gerade eine besondere Anziehungskraft auf Marek ausübt, wie die ganze Stadt
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