Sommerfest
mit Charlie als Kind erlebt hat und wie sie sich später gegenseitig durch die jeweiligen Liebesgeschichten gebracht und sich kaputtgelacht haben, wenn Charlies aktueller Freund oder Stefans neue Freundin eifersüchtig wurden, bis sie dann beide auf die dreißig zugingen und plötzlich allein dastanden, der ganze Dreck mit Stefans Eltern passierte und sie dann endlich mal übers Küssen und Händchenhalten hinausgingen. Was dann ja auch keinen Deut weniger als sensationell war, sodass sie gedacht hatten, das ist es jetzt, aber dann hat es doch nicht funktioniert, Herrgott, dieser ganze Harry-und-Sally-Scheiß, und vielleicht ging es auch nur darum, dass er es hier nicht mehr ausgehalten hat, nachdem das mit seinen Eltern passiert war, dieses ewige Wassertreten im modrigen Tümpel von Kindheit und Jugend, mit Toto und Diggo und Frank und Karin und Thomas und den Ommas und Onkels und Tanten und all den anderen, die den Absprung nicht geschafft hatten. Von der Wiege bis zur Bahre, man kann auch alles übertreiben, echt jetzt.
Echt jetzt ist fast so schön wie astrein, denkt Stefan.
»Sag mal«, sagt Mandy, »dir ist aber schon klar, dass ihr, also Charlie und du, denselben Fehler macht wie deine Omma und ihr Oppa?«
So weit ist es gekommen. Er lässt sich das Leben von einer gepiercten Zwanzigjährigen erklären, die nach einer alten Schnulze benannt ist.
Und die natürlich recht hat.
Und die natürlich trotzdem nicht weiß, was Sache ist.
Genauso wenig wie er selbst.
Sie kommen an dem Kinderheim vorbei, wo es früher, auf dem Weg zur Grundschule, gerne mal Ärger mit den Heimkindern gab. Dann der kleine Marktplatz, auf dem schon lange kein Markt mehr stattfindet und auf dem sie auch die alte, frei stehende Selterbude mit den Toiletten im hinteren Bereich abgerissen haben. In der Toilette hat er Charlie zum ersten Mal geküsst. Also so richtig, mit Zunge und Aneinanderdrängen, in der Nase den Duft ihres Shampoos und mehr als einen verträglichen Hauch Urinstein. Der fiese Geruch hat der Beule, die sich sehr schnell unterhalb von Stefans Gürtellinie aufbaute, nichts anhaben können, und Charlie ist dieser Beule auch nicht, wie Stefan gedacht hatte, ausgewichen, im Gegenteil, und wie er da so dran denkt, meint er, es greife etwas nach ihm, ein merkwürdiges Gefühl, das mit Verlust zu tun hat. Es ist, denkt er, als erinnere man sich plötzlich, wohin man vor Jahren eine bestimmte Sache, die einem wichtig war, gelegt hat, nur um sofort zu vergessen, wo genau das war. Jahrelang hat man danach gesucht und dann die Hoffnung aufgegeben. Und plötzlich fällt es einem wieder ein.
Vielleicht geht es Charlie ähnlich, denn plötzlich bleibt sie stehen und dreht sich um. Die anderen gehen weiter, Mandy schließt auf, Stefan trifft auf Charlie und bleibt ebenfalls stehen.
Sie sagt jetzt nichts, und das ist auch richtig so, siewissen eh beide, woran sie denken, aber dass sie seine Hand nimmt und mit ihm stumm über den mit Autos vollgestellten alten Marktplatz geht, dorthin, wo früher die Selterbude gewesen ist, das ist wieder so eine typische Charlie-Unverschämtheit. Der Schock fährt ihm voll in die Füße, und seine Hand, mit ihrer Hand drinne, wird heiß, aber nur fast so heiß wie sein Kopf. Drinne haben sie früher immer gesagt. Das sind so Heimat-Wörter, wie es auch Heimat-Zeitformen gibt, und die typische Heimat-Zeitform in dieser Gegend ist immer das Plusquamperfekt gewesen. Da war ich drinne gewesen. Kannze vergessen.
Und dann stehen sie da, wo früher die Toiletten gewesen sind, was natürlich ein Moment von großer, grotesker, wunderbarer Blödheit ist, und dann stellt Charlie eine dieser Charlie-Fragen, also eine, die aus dem Munde jeder anderen Frau, jeden anderen Mannes einfach nur abgeschmackt und peinlich klingen würde, aus ihrem Munde aber direkt dorthin vordringt, wo du dein Innerstes vermutest, wenn er das jetzt mal so denken darf, und zwar: »Bist du glücklich?«
Darauf gibt es keine Antwort, keine einfache jedenfalls. Meistens wird so eine Frage gestellt, um den Gefragten in Schwierigkeiten zu bringen, aber das ist nicht Charlies Ding, sie will es wirklich wissen. Und sie hat eine ehrliche Antwort verdient. Stefan fällt auf, dass er sich am liebsten Fragen anhört, die man nicht ehrlich beantworten kann oder muss, was das Leben sehr viel entspannter macht. Aber das hier ist kein Café in Schwabing, sondern der ehemalige Standort einer öffentlichen Toilette in einer mittleren Großstadt im
Weitere Kostenlose Bücher