Sommerfest
wenn er so nachdenkt, dann wird ihm klar, dass diese ganzen Probleme, die sie beide haben, vor allem an ihm liegen, an seiner ärgerlichen Unfähigkeit, sich mal richtig für etwas zu entscheiden. Es stimmt schon, somit einem halben Bein war er immer zu Hause, mindestens mit einem Viertel seiner Gefühle immer bei Charlie, und das muss doch mal ein Ende haben. Das Leben ist wie das Trinken aus Nullzwei-Pilstulpen: Wenn man nicht aufpasst, verpasst man irgendwann den Punkt, an dem … Ja, an dem was? Was für ein bescheuerter Vergleich! Das Leben ist wie Trinken aus Pilstulpen! Wieso nicht wie das Lutschen von Pinkelsteinen?
Das sind so Fragen, denkt Stefan, während er das Aroma eben jener Pinkelsteine in sich aufnimmt. Genauso wie die Frage, woraus solche Steine eigentlich bestehen. Sollte man mal googeln.
Was man nicht googeln kann, ist die Frage, wieso er immer einen solchen Hang zu kaputten Typen gehabt hat. Jeder mit ein bisschen Hirn hätte sich von Kindesbeinen an von Diggo und Toto ferngehalten, so wie Thomas Jacobi, Frank Tenholt und die anderen es getan haben. Na gut, Stefan ist nicht dabei gewesen, wenn sie im Supermarkt Schnaps klauen gingen, um ihn hinter der Turnhalle der Grundschule zu trinken. Oder wenn sie auf der Kirmes mit dem Autoskooter andere rammten und sich mit ihnen prügelten. Oder wenn sie andere Kinder und Jugendliche auf der Straße drangsalierten, ihnen ihr Geld abnahmen oder ihre Jacken oder ihre teuren Turnschuhe. Wochenlang ist Toto, der Idiot, in viel zu kleinen Samba von Adidas herumgelaufen, die er einem Dreizehnjährigen von einer anderen Schule abgenommen hatte. Diggo, die Zigarette grinsend im Mundwinkel, hat den Jungen festgehalten, obwohl er geschrien und geheult hat, weil er die Schuhe gerade erst zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. »Deshalb will ich sie ja haben!«, schrie Toto. »Mit so ausgelatschten alten Teilen will ich nix zu tun haben!« Soweit, da mitzumachen, ist Stefan nie gegangen, aber er hat sich lang und breit davon erzählen lassen, und Diggo und Toto mussten den Eindruck bekommen, dass er sie für ihre Tollkühnheit bewunderte. Sie haben ihn nie gefragt, ob er mitmachen wolle, was ja nichts anderes heißen konnte, als dass sie ihm nicht vertrauten. Stefan war zwar froh, dass er sich aus diesen Sachen raushalten konnte, aber das fehlende Vertrauen nagte dann doch an ihm. Dann wieder ärgerte er sich, dass ihm das überhaupt wichtig war. Mit der Denkerei kommt man irgendwie nie so richtig ans Ziel, denkt er, alles rast im Kreis, Schluss jetzt!
Er spült und wäscht sich die Hände mit dem abgegriffenen Stück Fa, das auf dem Waschbeckenrand scheinbar seit Jahren vor sich hin gammelt. Der elektrische Händetrockner stößt mit ohrenbetäubendem Lärm eiskalte Luft aus. Stefan wischt sich die Hände an der Hose ab und geht zurück in den Gastraum.
Wo sich mittlerweile eine Frau zu Diggo, Toto, Stones und Karo gesellt hat, und so selbstverständlich wie Diggo seine Hand hinten in ihren Hosenbund geschoben hat, muss das die Perle aus Eving sein, die Blume, die Diggo am Rande der Autobahn gepflückt hat.
»Was hast du die ganze Zeit gemacht?«, ruft Diggo ihm quer durch die Kneipe zu. »Mal wieder an den Pinkelsteinen gelutscht?«
Obwohl es nicht witzig ist, lachen alle. Der Diggo ist eben ein echter Entertainer.
»Das ist die Miriam«, stellt Diggo die Frau an seiner Seite vor und schiebt sie voller Besitzerstolz ein Stück in Stefans Richtung.
Miriam lacht, bemüht sich dabei aber, ihre Zähne nicht zu zeigen, was Stefan sofort vermuten lässt, dass da einigesim Argen liegt. Sie ist höchstens Mitte zwanzig, hat hohe Wangenknochen, helle Haut und weißblond gefärbtes Haar. Ihre Augen sind von einem erstaunlich hellen Blau und fixieren Stefan von oben bis unten.
»Spielen wir noch weiter?«, fragt er, weil würfeln in dieser Runde immer noch besser ist als reden.
»Schocken ist over«, bestimmt Diggo.
»Wisst ihr eigentlich«, ruft Toto, »dass sich in Gelsenkirchen schon mal einer totgeschockt hat?«
»Das schockt mich jetzt«, sagt Diggo.
»Ehrlich! War in dieser Kneipe in Bismarck, die der Wolli mal gemacht hat.«
»Geh mir weg mit dem Idioten!«, grunzt Diggo.
»Aber um den geht es ja gar nicht!«, meint Toto. »Der hat mir die Story nur erzählt. Also pass auf!«
»Ich pass immer auf, Toto«, sagt Diggo.
»Jedenfalls sitzt da einer und schockt den ganzen Abend! Fetter Kerl, ’ne richtige Tonne, also der brauchte eigentlich zwei Hocker
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