Sommerflimmern (German Edition)
meine Mutter vollständig zu heilen, und vor den Ärzten hatte sie ihre Verletzungen garantiert verheimlicht. Trotz ihrer Gegenwehr ergriff ich ihren Arm und registrierte ein paar ältere Wunden, die sie mir verschwiegen hatte. Ich machte mir Vorwürfe, und dann empfand ich nichts mehr, als ich bereit war, ihre Verletzungen zu absorbieren.
Anna zuckte zusammen, aber das ignorierte ich und sah zu, dass ihre tieferen Blutergüsse ausheilten. Um ihre gebrochenen Rippen hatte ich mich ja schon gekümmert, doch ihre Gehirnerschütterung bekam ich nicht in den Griff. Kopfverletzungen hatten die schlimmsten Auswirkungen auf mich und waren am schwersten zu heilen. Meine Mutter würde bohrende Kopfschmerzen bekommen, aber das würde sie schon überstehen, um dann doch irgendwann wieder zusammengeschlagen zu werden. Ich seufzte erleichtert auf, als ich fertig war, ließ sie los, und die vertrauten blauen Funken sprangen von meinen Fingerspitzen auf ihren Arm über.
Sie schreckte zurück und fing an zu weinen. Die energiebedingte Hitze, eine Begleiterscheinung der Heilung, hatte sich in Eiseskälte umgewandelt und ich zitterte. Meine Mutter wusste genau, wozu ich imstande war. Wie auch nicht, nachden vielen Malen, die ich sie geheilt hatte, nachdem ich mit zwölf meine Fähigkeiten entdeckt hatte. Sie hasste es und tat so, als gäbe es sie nicht, selbst dann, wenn auf meiner Haut genaue Abbilder der Blutergüsse sprossen, die auf ihrer verschwanden.
»Wo ist Dean?« Das Krächzen in meiner Stimme, wohl eine Folge der Strangulation, erschreckte mich und ich fragte mich, ob ich mich damit nun womöglich dauerhaft herumschlagen müsste.
»Der ist auch hier. Er … er hat sich beim … Sturz verletzt. Seine Rippen sind gebrochen. Die Ärzte sagen, das wird wieder.«
Ihrem Ton nach zu urteilen, hatte sie sich bereits eingeredet, das Unmögliche sei nie geschehen. Sie berührte meine Hand, was selten geschah. »Hör mal, Kleines. Die Bullen … die stellen einen Haufen Fragen, wollen wissen, was vorgefallen ist. Ich habe ihnen gesagt, das Ganze sei ein Missverständnis gewesen.«
Das erklärte, wieso sie bei mir saß anstatt bei Dean. Sie wollte sicherstellen, dass ich für sie log. Ich drehte mich weg, damit ich sie nicht mehr ansehen musste, und sie fuhr mir vorsichtig durchs Haar. Sie würde mir sagen, dass ich Dean nicht wütend machen solle. Wenn ich mich doch einfach benähme … immer wieder dieselbe alte Leier. Nie war es Deans Schuld, wenn er ihren Kopf mit den Fäusten traktierte. Es war ihre, denn sie hatte ihm das Bier nicht schnell genug gebracht. Es konnte nicht seine Schuld sein, wenn er seine angezündete Zigarette in meinen Arm bohrte. Ich hätte ihm meinen Gehaltsscheck vom Videostore aushändigen sollen.
Und tatsächlich, sie fing davon an, dass bei unserer Heimkehr alles anders würde. Wir müssten uns mehr anstrengen, eine Familie zu sein. Bei ihren Worten wurde mir übel.Ich hielt mir die Ohren zu und schrie in meinem Kopf: Halt bloß die Klappe!
Nachdem sie gegangen war, musste ich eingeschlafen sein, denn inzwischen war es dunkel im Zimmer und mein Vater war gekommen.
Den Großteil meines Lebens war Ben O’Malley einfach nicht vorhanden gewesen. Vor Jahren hatte ich ihn einmal angerufen und gedacht, er käme wie der Ritter in der glänzenden Rüstung und würde mich retten. Seine Sekretärin hatte mir erklärt, er sei zu beschäftigt, um ans Telefon zu kommen, und mir versprochen, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Er hatte nie zurückgerufen. Danach hatte ich mich geweigert, mit ihm zu sprechen.
Ben merkte, dass ich aufgewacht war und kam zu mir ans Bett. »Remy? Wie fühlst du dich?«
Mein Blick wanderte über seine hochgewachsene Gestalt und ich musterte ihn zum ersten Mal seit Jahren. Dass ich seine Tochter war, war nicht zu übersehen. Ich war beinahe so groß wie er und hatte ebenso welliges, fast schon krauses dichtes Haar, wenngleich seines grau meliert war, meines dagegen schmutzig blond.
»Remy?«
Mein Vater nahm einen rosa Krug vom Beistelltisch und goss Wasser in eine Tasse. Er steckte einen Strohhalm hinein und hielt sie mir hin. Am liebsten hätte ich abgelehnt, aber mein Hals war völlig ausgedörrt. Nach ein paar Schlucken lehnte ich mich zurück und mir fiel auf, dass meine Verletzungen inzwischen eigentlich verheilt hätten sein müssen. Was auch immer mit Dean geschehen war, meine Selbstheilungskräfte hatten darunter gelitten, obwohl ich Anna problemlos hatte behandeln
Weitere Kostenlose Bücher