Sommerfrost - Die Arena-Thriller
mussten ihr alle die Ferien vermiesen? Ihr blöder Nachhilfelehrer würde in zehn Minuten da sein und dann hatte sie auch noch die Begegnung mit Leander vermasselt – sonst hätte er sie doch bestimmt nach ihrer Telefonnummer gefragt. Der Tag war verdorben. Sie stellte sich rasch unter die Dusche, zog ein Sommerkleid an und wollte gerade in ihrem Zimmer den Ordner mit den Englischübungen aus dem Regal nehmen, als ihre Mutter von unten rief: »Lyra! Komm doch mal!« Sie tat einfach, als habe sie nichts gehört. Sollte ihre Mutter doch hochkommen. Warum sollte Lyra immer sofort springen? »Lyra!« Ihre Mutter stand im Türrahmen mit dem Telefon in der Hand. »Pablo kommt heute nicht. Seine Frau hat gerade angerufen. Er hat wohl einen Virus aufgeschnappt. Ihm ist schwindlig und er hat Fieber.« »Super!«, rief Lyra erfreut und ihre Mutter sah sie tadelnd an. »Ist es denn was Schlimmes?«, fragte sie mit gespielt besorgter Miene. »Der Arzt ist noch da. Er hat Pablo verboten, den Unterricht zu halten.« Typisch Pablo! Lyra stöhnte innerlich, wenn sie an seine eiserne Selbstdisziplin dachte, die er auch von all seinen Schülern erwartete.
Ihre Mutter seufzte. »Tja, wir werden wohl einen Ersatz finden müssen.« Mist!, dachte Lyra. »Vielleicht sollten wir noch warten, was der Arzt rät«, sagte sie und hoffte auf wenigstens zwei freie Wochen. Der Blick ihrer Mutter verriet, dass sie Lyra durchschaute. »Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können, so lange kein Englisch zu lernen, Lyra?« Wenn ihre Mutter in der Wir-Form sprach, meinte sie es meistens ziemlich ernst. »Ist doch noch ewig Zeit. Die Ferien haben ja gerade erst angefangen«, erwiderte Lyra und setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. »Wir werden sehen«, sagte ihre Mutter und wandte sich zum Gehen. Lyra schnitt hinter dem Rücken ihrer Mutter eine Grimasse. Sie hatte es satt, wie ein Kind behandelt zu werden. Da fiel ihr plötzlich wieder Leander ein. Leander – was für ein poetischer Name. Und vielleicht hatte sie sich ja doch nicht so ungeschickt angestellt. Aber sie würde niemandem davon erzählen. Diese Begegnung gehörte ihr ganz allein – und Leander . . . Unten klingelte das Telefon. Hoffentlich war das nicht Pablo, der ganz plötzlich wie durch ein Wunder geheilt war! »Ja? Nein, wirklich nicht!«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Wenn wir irgendwas tun können . . .« Wer war das? Klang nicht nach Pablo. Erleichtert stieg Lyra die Treppe hinunter. Endlich legte ihre Mutter auf. Lyra sah sie neugierig an. »Pia ist immer noch nicht zu Hause«, sagte ihre Mutter bestürzt. Lyra war sich so sicher gewesen, dass Pia heute wieder auftauchen würde. Doch allmählich machte sich auch bei ihr ein unangenehmes Gefühl breit. »Mach dir keine Sorgen, Mama, was soll denn schon passiert sein?«, versuchte sie ihre Mutter zu trösten. Im selben Moment merkte sie, dass das genau der falsche Satz gewesen war. Ihre Mutter sah sie ernst an. »Es kann eine ganze Menge passieren da draußen, Lyra.« Wie hatte sie nur so etwas Dummes sagen können? »Ja, ich weiß«, sagte Lyra leise und schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter. Eine Weile standen sie so da, ohne zu reden. Aber Lyra wusste, dass sie beide an das dachten, was vor zehn Jahren geschehen war. An die Katastrophe, die damals über sie hereingebrochen war und die ihr ganzes Leben verändert hatte. Nach einem schweigsamen Abendessen war Lyra früh zu Bett gegangen. Lange lag sie wach, lauschte in die Dunkelheit und wartete auf das Dröhnen, aber es kam nicht. Endlich schlief sie ein. Doch plötzlich schlich sich ein Gesang in ihre Träume.
»Schlaf, meine Lyrali, schlaf ein, du musst keine Angst haben, schlaf ein, Lyrali, schlaf ein...«
Sie kannte den Gesang. Sie kannte die Stimme. Irgendwoher.
VIE R
A ls Lyra spät am nächsten Morgen aufwachte, schien sie noch immer das Lied zu hören. Woher kannte sie es nur? Es hatte so nah geklungen, gar nicht wie in einem Traum. Lyra blinzelte. Die Sonnenstrahlen, die durch die Vorhangritze fielen, ver scheuchten ihre trüben Gedanken. Es war ihr zweiter Ferien tag! Und Pablo war krank! Lyras Stimmung hellte sich schlagar tig auf. Sie ging hinunter in die Küche, um einen Orangensaft zu trinken und ein paar Cornflakes zu essen. Da sah sie den Zettel auf der Küchentheke.
Komm doch um zwei ins Büro, dann gehen wir was essen, Mama
Lyra wusste nicht recht, ob sie dazu Lust hatte. Aber wenn ihre Mutter schon mal was mit ihr machen wollte, sollte sie
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