Sommergayflüster
ihn, klebte in seinem Rücken, in seinen Gedanken.
„Du Idiot!“ Alphonse gestikulierte. „Wo sind die Bommel?“, rief er ihm nach.
Da setzte Stephane den Rucksack ab und zog eine Tüte heraus. Rote und blaue Troddeln waren darin, Schmuck für die Leittiere, Zierrat für die Augen der Dorfbewohner und die stolzen Besitzer. Es war Zeit, sie im Fell der Leittiere zu befestigen.
„Hol sie dir!“ Stephane warf die Tüte mit aller Kraft einen steilen Abhang hinunter. Sie kullerte noch ein Weilchen hinab, bevor sie ihre Fracht entlud und an einem Brombeergestrüpp hängen blieb, vom Wind gebläht. Die Wolle verfing sich in den Dornen.
„Du Blödmann, was ist denn los mit dir?“, erklang es von Weitem.
Stephane hielt es nicht länger hier. Er setzte sich den Rucksack wieder auf die Schultern und lief los, hinab ins Tal, fort von den dämlichen Tieren, fort von den Hunden und fort von seinem Leben, das ihm seine große Liebe genommen hatte. Er wischte sich die Tränen ab, sein Puls raste. Der Schwung zog ihn ins Tal hinab, seine Beine flogen, obwohl er eigentlich nicht ins Dorf wollte, das ihm mit einem Mal so eng erschien. Er wollte nur noch weg, irgendwohin, wo niemand ihn fand und Anstoß an ihm nehmen würde. Vielleicht konnte er den späten Bus erwischen, vielleicht nach Clermont Herault oder gar nach Montpellier. Niemand würde ihn dort vermuten, Dominic schon gar nicht. Sollte er ihn doch vermissen, später, wenn er wieder zur Besinnung gekommen war.
Die Schafe wurden kleiner, Alphonse wurde zum Zwerg, die Hunde liefen ratlos hin und her, bellten ihm nach. Stephane unterdrückte ein Schluchzen, er glaubte zu ersticken vor lauter Atemlosigkeit und dem Drang zu weinen. Dominic mit den weichen Haaren, die er nie mehr streicheln konnte. Allein würde er sein. Isoliert wie ein Komet, der einsam seine kalten Kreise zog um ein Objekt, das er niemals erreichen würde.
Bald war Stephane im Tal angekommen. Der Bach rauschte. Er blieb stehen, beugte sich zu seinen Knien hinab und schöpfte nach Luft. Dort lag der Feldweg, der ihn fast direkt zu seinem Elternhaus bringen würde. Ein wenig erleichtert, richtete er sich wieder auf und ging weiter. Nach einem Kilometer stand er vor dem Haus. Er öffnete die Hintertür mit seinem Schlüssel. Gleich würde das Auto vorfahren und seine Eltern von der Arbeit kommen. Das Fenster seines Zimmers ging auf die Hauptstraße, die mit Weinständen und einem Kinderkarussell bestückt war. Menschen versammelten sich bereits, obwohl es kaum achtzehn Uhr war. Sie sprachen, lachten und hielten Plastikbecher mit Wein in den Händen. Was gibt es eigentlich zu feiern?, fragte sich Stephane.
Als er das gemachte Bett sah, zog er seine Jacke aus und warf sich auf die Tagesdecke. Er merkte erst jetzt, wie müde er war, und es dauerte nur einen Augenblick, bis er einschlief. Nach einer Weile erwachte er, die rötliche Abendsonne beleuchtete die Tapeten. Seine Mutter stand vor ihm, er blickte auf ihre Turnschuhe und Jeans.
„Stephane, mein Schatz, du bist ja schon da!“
Er rappelte sich hoch und nahm die Umarmung und den schmatzenden Kuss auf beide Wangen entgegen.
„Mama“, sagte er tonlos und räusperte sich.
„Wie geht es dir? Hast du alles gut überstanden?“
Stephane nickte und zwang sich zu einem Lächeln.
„Alphonse war eben hier. Er hat dein portable gebracht, ohne ein Wort. Ich dachte, du wärst noch bei der Herde. Ich wollte es gerade in dein Zimmer legen und da bist du!“ Sie legte das Telefon auf den Nachttisch und fuhr ihm über das Haar.
„Komm, zieh dich um, Papa ist schon draußen. Die Schafe hatten gar keine Bommel. Hattet ihr keine dabei?“
„Nein.“
Das Telefon schimmerte.
„Ich wollte eigentlich nur …“, begann Stephane. Doch seine Mutter hatte das Zimmer wieder verlassen, er hörte ihr gut gelauntes Trällern im Flur.
Er setzte sich auf die Bettkante, das Telefon lag still und stumm vor ihm. Als sein Blick auf den Rucksack fiel, packte ihn eine Erregung. Mit zitternden Händen riss er die Schnüre auf, öffnete den Rucksack und zerrte das Kabel des Ladegerätes heraus. Hoffentlich war das portable nicht in Lucilles Maul kaputtgegangen.
Jetzt wollte er noch einmal lesen, was Dominic geschrieben hatte. Vielleicht, vielleicht hatte er sich ja doch verlesen. Er steckte mit einiger Mühe den Anschluss in die Steckdose und verband es mit dem Telefon. Sofort gab es ein Lebenszeichen von sich, blinkte auf. Er verfolgte gebannt das animierte Bild der
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