Sommergayflüster
links liegen. Nach einer Zeit vergeblicher Verfolgung brachte Lucille das Telefon zu Alphonse, der es verwundert aus ihren Zähnen zog. Stephane war dankbar, weil er keinen Kommentar knurrte.
Gestern noch hatten sie miteinander telefoniert. Er war etwas atemlos und kurz angebunden gewesen, aber er hatte auch gelacht. Hatte er etwas falsch gemacht? Was war denn seitdem passiert?
„Stephane!“ Alphonse wies auf die Straße, die ihren Weg kreuzte.
Stephane rannte los, wie ein Automat führte er die notwendigen Maßnahmen aus. Position auf der Straße, den Autos entgegensehen, die Arme hochreißen, die Schafe zu einem schnelleren Schritt animieren, die Hunde einsetzen. Als die Herde die Fahrbahn fast überquert hatte, verlangsamte ein Peugeot, ein Cabrio, die Geschwindigkeit. Am Steuer saß ein Mann, modisch gekleidet, neben ihm eine junge Frau, die Dominics Haarfarbe hatte. Sie lachte wegen irgendetwas, dann musterte sie Stephane. Ihre Augen waren blau, ihr Ausdruck wechselte von Neugier in Verwunderung. Sie taxierte ihn, seine derbe Hose, seine dreckigen Wanderschuhe, den Stock, den er in der Hand hielt. Dann gab der Fahrer Gas und schnellte davon, von sanfter Kraft getrieben.
Stephane sah ihnen nach, dann schaute er an sich hinunter. Er wurde sich mit einem Mal bewusst, wer er war. Er war ein Bauer, ein Schäfer. Gewiss, er wollte später auf die Landwirtschaftsschule gehen, einen guten Abschluss machen, aber das zählte nicht. Solange er alte Kleidung trug und den ganzen Tag nach Wollfett roch, solange seine Hände voller Risse und Schwielen waren und er plumpe, unbeholfene Worte von sich gab, blieb er ein Bauer und Schäfer. Warum hatte Dominic eigentlich ihn gewählt?
Weil es gerade keinen anderen gab, nur deshalb. Es gab keinen besonderen Grund für Dominic, ihm treu zu sein. Sicher hatte er gerade einen hübscheren, charmanteren Freund gefunden.
Stephane ließ sich in der Herde treiben. Die Schafe zogen weiter, immer weiter, Kilometer um Kilometer. Grashüpfer sprangen in Scharen aus dem trockenen Gras heraus, bevor sein schwerer Schuh die Halme krachend zertrat. Die Sonne wanderte, Stephane kam sich vor wie auf einer glatten Scheibe. Nirgendwo eine Grenze, die Hochebene hielt seinen Blick kaum auf. Er hob den Kopf zum Himmel, fühlte sich verlassen und einsam. Die Gänsegeier waren längst am Himmel und betrachteten die winzigen Menschen.
Mit einem Mal packte ihn die Wut. Die Schafe waren ihm plötzlich lästig wie nie zuvor. Er trat in den Schotter, sodass die Steinchen aufflogen und die gemächlich wackelnden Hinterteile der Tiere vor ihm trafen. Diese Viecher ekelten ihn nun an, ihre Dummheit, ihr ewiges Fressen und Scheißen. Die Hunde blickten ihn an, die Ohren aufmerksam gespitzt. Er hasste auch sie. Er hasste Alphonse, der ihn mit sich zog wie ein Gefängniswärter.
„Da ist es“, sagte dieser und blieb stehen.
Sie standen inzwischen am südlichen Rand der Causse de Blandas und sahen auf die verschachtelten Dächer ihres Heimatdorfs hinab.
Alphonse seufzte. „Wurde auch Zeit. Na? Freust du dich nicht?“
Stephane ignorierte ihn und versuchte, einen Fingernagel zu säubern, indem er mit einem anderen dreckigen Nagel in die Rille fuhr.
„Deine Eltern freuen sich bestimmt schon“, bohrte Alphonse weiter.
„Was kümmert’s dich?!“, rief Stephane und ließ ihn stehen. Mit schnellem Schritt eilte er über die Straße und ließ die Herde hinter sich. Bald war er an der Kante der Causse angekommen, er schaute direkt ins Tal hinab. Dort unten näherte sich ein Auto, es fuhr routiniert und zügig die engen Kurven bergauf, eine nach der anderen. Es war ihm egal, er ignorierte die Gefahr, die der Herde drohte. Was solls, dachte er hartnäckig. Er marschierte weiter, stieg die Straße hinab. Er nahm die erste Biegung und die Schafe verschwanden hinter ihm im Nichts. Endlich brauchte er sie nicht mehr sehen. Der Wagen passierte ihn, kam der Kante immer näher, auf die die Herde gerade zulief. Plötzlich hörte er das Quietschen von Reifen, das Auto schlitterte über den Asphalt. Hundegebell, schimpfende Männerstimmen. Es war ihm gleichgültig. Er hatte die zweite Serpentine hinter sich.
„Stephane!“, rief Alphonse. Er war wütend, Stephane bemerkte es an seiner Stimme. Es war ihm schnurz.
„ Sacré! Ich helf’ dir gleich!“, vernahm er. An der vierten Serpentine angekommen, blickte Stephane sich um. Anscheinend war die Begegnung mit dem Auto glimpflich verlaufen. Die Herde verfolgte
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