Sommergewitter
Freunde. Nicht einmal ins Haus gebeten hatten wir ihn.
»Was g-geht hier eigentlich ab? G-glauben jetzt wirklich alle, ich hätte ihr was getan? Nur weil ich mein M-m-messer v-verloren habe? Nur weil ich Steffi mal beim Vögeln mit Jonas überrascht habe? Nur weil ich abends gern sch-sch-spazieren gehe und keinen k-kläffenden Köter dabeihabe wie Alexa? Nur weil ich nicht so’n Sch-Scht-Strahlemann bin wie Jonas? Weil ich am See war? Jonas war auch am See! Und dein Freund, Alexa, auch!« Plötzlich hatte er sich gefangen. Seine Sprache lief wieder flüssig und in gleichmäßigem Tempo und er brüllte so laut, dass die Nachbarn neugierig das Fenster öffneten. »Florian fummelt dauernd an andern Weibern rum, und zwar auch dann, wenn die das nicht wollen! Und er war heute doch auch lange im Wald, oder? Und tausend andere Typen waren allein im Wald, am See, in diesem spießigen Käsekaff hier! Wollt ihr wissen, wie viele Leute sich hier abends ganz legal im Spätprogramm die Pornos reinziehen? Ich wette, jeder Dritte! Aber ich – a-ausgerechnet ich – soll dieser überspannten Tussi an die Wäsche gegangen sein? Wo ist denn euer Opfer? Habt ihr schon ihren zerrissenen Schlüpfer gefunden, oder was?«
Rüdigers Gesicht war rot vor Zorn, er packte sein Mofa, ließ den Motor an. »Wenn ihr sie gefunden habt, könnt ihr wiederkommen. Dann können wir darüber reden, was mit meinem Messer war, vorher nicht!«
»Bleib hier!«, sagte mein Onkel schroff.
»Wollen Sie mich festhalten?«
»Paul! Lass ihn!«, rief meine Mutter.
»Rüdiger, bitte«, sagte ich, »sie wollen doch alle nur wissen, was los war, du machst dich doch selbst verdächtig, wenn du . . .«
»Ihr könnt mich mal! Ich fahr nach Hause! Ihr wisst ja, wo ich wohne!« Er schwang sich auf sein Mofa, wendete und brauste den Weg hinunter.
Wir starrten ihm nach. Mein Onkel rief noch, er solle es sich bloß nicht einfallen lassen abzuhauen, woraufhin ihm Rüdiger den rausgestreckten Mittelfinger zeigte, dann verschwand er aus unserem Blickfeld, das Motorengeräusch verebbte.
Freitag, 21.30 Uhr
Keiner hatte noch Appetit auf Pizza. Die Zeit schlich dahin. Zwei Polizisten kamen, stellten Fragen, nahmen ein Foto von Ginie mit und gingen wieder. Mein Onkel telefonierte ununterbrochen mit Leuten, die Ginie kannten und vielleicht irgendetwas wissen konnten. Alexa sprach über Handy mit Florian, bat ihn herzukommen.
»Er hat sie nicht gesehen. Ihm ist auch nichts Verdächtiges aufgefallen«, sagte sie und erntete stummes Nicken. Man hatte das auch nicht erwartet, es war eine allgemeine Niedergeschlagenheit und Kraftlosigkeit eingetreten.
Ich ging wortlos nach oben ins Badezimmer. Ein paarmal schaufelte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, dannsetzte ich mich auf die kalten Fliesen und weinte leise vor mich hin.
Was war das für ein Tag? War das wirklich noch derselbe Tag, an dem ich mittags hier unter der Dusche glücklich gesungen hatte?
Eine Woge von Elend und Selbstmitleid überrollte mich, aber bevor ich darin untergehen konnte, riss mich der Gedanke an Ginie wieder heraus. Wo mochte sie sein, während ich sicher und gesund zu Hause war? Wenn man mit irgendjemandem Mitleid haben musste, dann mit ihr!
Natürlich auch mit meinem Onkel, der erst seine Frau verloren hatte und nun verzweifelt nach seiner Tochter suchte. Und auch mit Rüdiger, der bestimmt ganz unschuldig unter Verdacht geraten war. Sogar ein bisschen mit Steffi, die mit Jonas so derb auf die Nase gefallen und dazu auch noch von irgendwem belästigt worden war. Dagegen waren meine Probleme doch pieselig. Ich krittelte an mir herum, weil ich kein lila Kleid, keine freche Klappe und keinen klasse Typen an meiner Seite hatte. Aber mich hatte wenigstens noch keiner angetatscht. Verflixt! Wen konnte Steffi nur gemeint haben?
Jemanden, den sie häufig sieht. Jemanden, mit dem Rüdiger auch ein Problem hatte. Mit wem sollte Rüdiger ein Problem haben? Moment . . . Meinte sie . . . War das . . .?
Plötzlich fügten sich in meinem Kopf zwei Puzzleteile zusammen. Es war ganz leicht. So viele Jungen oder Männer, die mit uns schwimmen gingen, gab es nicht. Und nur einen, der Rüdiger früher fertiggemacht hatte. Der jetzt bei Steffis Eltern ein und aus ging. Den sieunmöglich solcher Übergriffe beschuldigen konnte, weil er der Freund von Alexa war: Florian-Grobian.
Ich verließ das Bad, stürzte die Treppen hinunter ins Wohnzimmer und traute meinen Augen nicht: Da stand er. Wegen des lauten
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