Sommergewitter
anderem geredet.«
»Lüge!«, rief Steffi. »Er hatte es mit! Ich hab’s genau gesehen! Annika, du musst es auch gesehen haben!«
Hatte ich es gesehen? War das heute gewesen und nicht gestern oder vorgestern? Ich wollte mich nicht festlegen. Steffis Blick durchbohrte mich. Es war heute. Ich nickte.
»Die Frage ist: Warum lügt Rüdiger?«, rief Alexa. »Erstens bleibt er unverhältnismäßig lange weg, zweitens verliert er sein Messer und erzählt nichts davon und drittens fährt er mit seinem Mofa, bestreitet es aber hartnäckig. Da stimmt doch was nicht!«
»Das glaube ich auch!« Die Stimme meines Onkels war leise und zittrig, aber unbedingt entschlossen.
»Moment, Paul, beweisen tut das noch gar nichts.« Meine Mutter hielt die Hand ihres Bruders umklammert, ihr Blick huschte Hilfe suchend hin und her. »Ich kann und will nicht glauben, dass ein Junge, den ich habe aufwachsen sehen und seit Jahren kenne, etwas mit dem Verschwinden meiner Nichte zu tun haben soll!«
Alexa sagte: »Die meisten Verbrechen werden von Angehörigen oder Freunden begangen, nicht von Fremden.«
»Ach, jetzt hört auf!«
»Annika, ganz ruhig!«, sagte mein Vater. »Ich will auch nicht, dass jemand Rüdiger vorschnell verdächtigt. Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren und unsan die Fakten halten. Die Polizei hat das Messer sichergestellt, sieht zunächst aber keinen unmittelbaren Zusammenhang. Trotzdem werden sie es untersuchen. Außerdem wollen sie die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Ginie abgehauen ist.«
»Unsinn!«, rief mein Onkel. »Sie ist noch nie ausgerissen! Nicht mal aus dem Internat! Und da hat sie sich wahrlich nicht wohlgefühlt! Aber selbst wenn sie so was vorgehabt hätte: Wie hätte das gehen sollen? Sie hat so gut wie gar kein Geld bei sich, sie kennt sich nicht in der Gegend aus. Sie hat nicht mal ihr Handy dabei!«
»Sie kann zur Landstraße gelaufen sein, um von dort zu trampen.«
»Ginie trampt nicht! Sie ist vielleicht nicht so klug und vorsichtig wie deine Tochter, Bernd, aber . . .«
»Was sollen jetzt diese albernen Eifersüchteleien?«
»Sie hat’s ja auch nicht so leicht gehabt. Die ganze verdammte Geschichte mit ihrer Mutter . . .«
»Was hatte sie eigentlich?«, fragte ich dazwischen, aber in diesem Moment hörten wir Jonas düster sagen: »Wenn Rüdiger Ginie etwas getan hat, bin ich mit dran schuld. Ich bin der größte Idiot der Welt.«
»Was? Du?«, rief ich. »Was hast du damit zu tun, Jonas?«
»Ich habe ihm geraten, etwas aktiver zu werden. Rüdiger ist ja so wahnsinnig schüchtern und verklemmt. Er leidet unter Minderwertigkeitskomplexen. Mich mögen die Mädchen, für ihn interessiert sich keine Einzige. Zu Hause ziehen die Eltern seinen Bruder Philipp vor. Und bis vor gar nicht allzu langer Zeit gab es immer ein paar fiese Typen, die den schüchternen Rüdiger nach Strichund Faden fertiggemacht haben. Allen voran dein Freund, Alexa, erinnerst du dich?«
»Das ist doch ewig her! Außerdem war das Spaß!«
»Spaß? Wenn ein Älterer an einem Jüngeren seinen Frust auslässt und ihn regelmäßig in die Mülltonne steckt?«
»Was hat denn das mit Ginie zu tun?«, rief mein Onkel ungeduldig.
»Das hat es schon«, beharrte Jonas. »Florian war heute auch am See. Rüdiger war bestimmt nicht begeistert, als er ihn gesehen hat. Dafür war er es umso mehr von Ginie. In die hat er sich, glaub ich, sofort verknallt.«
»Hab
ich
nichts von gemerkt«, rief Steffi. »Du hast dich doch die ganze Zeit mit ihr unterhalten, du warst es doch, der sie angehimmelt hat!«
»Ja und? Was soll ich denn machen? Soll ich mich verstellen und mich auch stundenlang stumm und steif wie ein Brett neben sie setzen, nur damit einer, der’s Maul nicht aufkriegt, auch ’ne Chance hat, irgendwann mal ein Wort mit ihr zu wechseln?!«
Wir waren neugierig geworden. Mein Onkel hatte sich vorgebeugt. Mein Vater drängte: »Und weiter?«
»Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht«, sagte Jonas ernst. Im gleichen Moment hörten wir durch die offene Terrassentür das Geräusch eines herannahenden Mofas.
»Er kommt!«, sagte Alexa.
»Jonas!«, rief mein Onkel. »Raus mit der Sprache! Was für einen Fehler hast du gemacht?«
»Es kann sein, dass . . . Ich meine, er muss ja nicht gleich . . . ich glaube eher . . . Vielleicht hat er sie bedrängt,sie war wütend, ist abgehauen.« Jonas stützte die Stirn auf die geballte Faust, kniff die Augen zusammen. »O Mann, was habe ich nur
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