Sommergewitter
Katze lief davon. Mein Onkel kam wieder als Erster auf mich zu, kurzatmig und stolpernd diesmal, lange nicht so kraftvoll wie vor einigen Stunden. Auch seine erste Frage war nicht ganz dieselbe. »Annika! Wo ist Rüdiger?«
»Rüdiger? Der ist gerade mit seinem Mofa los, um Pizza zu holen.«
»Pizza? Ginie ist verschwunden und ihr bestellt Pizza?«
»Paul, ruhig!«, rief meine Mutter, ergriff seine Schultern und schob ihn ins Haus. »Die Kinder müssen doch etwas essen. Und du musst dich jetzt wirklich ausruhen! Annika, hol ihm mal ein Glas Wasser! Paul, setz dich hierhin!«
»Wann ist Rüdiger gefahren?«, fragte mein Vater, der mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck hinterhergekommen war.
»Vor zehn Minuten«, antwortete Jonas.
»Dann muss er ja bald zurück sein!« Die Stimme meines Onkels klang drohend, er ballte die Fäuste, sah auf seine Armbanduhr, schob das Glas Wasser, das ich ihm reichen wollte, mit einer Handbewegung weg, sodass die Hälfte überschwappte. »Danke, ich will nichts. Ich bin nicht krank. Ich vermisse meine Tochter. Und ich will wissen, was dieser Kerl . . .«
»Paul«, unterbrach ihn mein Vater, »du hast doch von der Polizei gehört, dass ein Zusammenhang mehr als unwahrscheinlich ist.«
»Das wird sich noch zeigen!« Mein Onkel fuhr hoch.»Tatsache ist doch, dass ihn das verdächtig macht! Annika, was ist dieser Rüdiger für einer?«
Steffi und Alexa, die auf die Ankunft der Erwachsenen hin wieder hereingekommen waren, reckten hellhörig die Köpfe.
Ich sagte einfach: »Ein guter Freund.«
»So?« Mein Onkel drückte sich mit den Armen etwas von den Sessellehnen ab und starrte mich in halb geduckter, halb sprungbereiter Haltung an. »Wusstest du, dass dein ›guter Freund‹ mit einem Fleischermesser bewaffnet durch den Wald gelaufen ist?«
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Mein Onkel fixierte mich weiter. Wie ein Raubtier sah er jetzt aus. »Ich habe sein Messer gefunden«, knurrte er. »Stell dir mal vor, Annika, ich renne durch den Wald, kämpfe mich durch das Gestrüpp, rufe nach Ginie, da steckt plötzlich dieses Messer vor mir in einem Baumstamm.« Er machte eine hastige Armbewegung. Ich zuckte zusammen. »Peng! So, als wär’s gerade auf jemanden geworfen worden. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist?«
»Sein Messer?«, hörte ich Jonas’ Stimme.
»Sein Messer«, wiederholte mein Onkel und wandte sich an ihn. »Größer als jedes normale Taschenmesser, mit feststehender Klinge, nicht gerade ein Spielzeug. Deine Mutter hat gesagt, ihr hättet es ihm zum Geburtstag geschenkt. Nette Idee.«
»Hat Rüdiger euch gesagt, dass er es verloren hat?«, fragte meine Mutter ruhig.
»Nein«, antwortete Jonas tonlos und ließ sich an der Wand hinunter auf den Parkettboden rutschen.
Ich suchte ungläubig nach einer Erklärung, fand aber keine.
Steffi konnte nicht mehr an sich halten. »Frau Senkel, ich habe Annika vorhin schon erzählt, wie unheimlich sich Rüdiger manchmal benimmt!«, platzte es aus ihr heraus.
»Wieso?«, fragte meine Mutter erstaunt und mein Onkel setzte sofort nach: »Wie meinst du das?«
»Er treibt sich abends allein draußen rum, erschreckt Leute, guckt bei den Liebespärchen und . . . Frau Senkel, man kann richtig Angst vor ihm kriegen!«
»Das heißt doch nichts, Steffi! Nur weil du ihn nicht leiden kannst . . .«
»Wer sagt, dass ich ihn nicht leiden kann, Annika?«
»Und sein Mofa?«, meldete sich Alexa. »Er behauptet, er hätte es nicht benutzt, aber ich bin mir hundertprozentig sicher: Als ich an euren Fahrrädern vorbeigegangen bin, stand das Mofa nicht dabei!«
»Langsam, langsam, eins nach dem anderen!«, rief mein Vater, aber niemand beachtete ihn, alle redeten durcheinander:
»Er hatte den Schlüssel zu der Kette, er allein konnte das Mofa unbemerkt entfernen!«, rief Steffi.
»Aber er kann sein Mofa benutzen, wann er will!«, entgegnete ich. »Das Messer hat er wahrscheinlich einfach verloren!«
»Das Messer steckte in einem Baumstamm, Annika!«
»Ist doch komisch, dass er ausgerechnet heute sein heiß geliebtes Messer verliert und uns nichts davon sagt! Er passt doch sonst immer so auf seine Sachen auf! Hat er es nicht vermisst, oder was?«, fragte Alexa.
»Doch, hat er«, sagte Jonas traurig. »Als wir auf euch gewartet haben, habe ich ihn um das Messer gebeten, weil ich das Würstchenpaket damit aufschneiden wollte. ›Hab ich heut nicht mit‹, hat er gesagt und dann schnell von was
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