Sommergewitter
Zusammenhang sehen? Damit die mir wieder erzählen, meine Tochter sei in einem schwierigen Alter? Ohne Mutter! Ohne Halt! Damit die ihn mit solchen Floskeln in Schutz nehmen?« Mein Onkel ergriff meinen Arm. »Du zeigst mir, wo der Typ wohnt! Komm, du hast sie schließlich mit ihm zusammengebracht!«
»Dafür kann Annika doch nichts!«, widersprach mein Vater heftig und lief hinter uns her.
»Ich sag euch, wenn er meiner Tochter was getan hat, dann gnade ihm Gott!«
»Das ist Sache der Polizei.«
»Das ist in allererster Linie meine Sache!«
»Es ist die Sache von uns allen«, rief Florian und hob kämpferisch die Faust, als gelte es, in einen Rachefeldzug zu ziehen.
Alexa und Steffi schlossen sich an, verteufelten Rüdiger, und beide erlaubten Florian, sich bei ihnen unterzuhaken. Sieh an, im Kampf gegen das Böse waren sie wieder vereint. Angrabbeleien hin oder her, sie waren schon so gut wie eine Familie, da mussten sie zusammenhalten.
Jonas blieb niedergeschlagen zurück. Meine Mutter telefonierte aufgeregt mit der Polizei.
Die Spitze der Gruppe bildete mein Onkel, mich mal vorausschiebend, mal hinter sich herziehend, gefolgt von meinem Vater, der auf seinen Schwager einredete und verzweifelt versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen.Ich stolperte, trat in eine Pfütze, bekam nasse Füße – egal. Die Tatsache, dass Steffi mit ihrer furchtbaren »Rüdiger-ist-mir-unheimlich«-Theorie recht behalten sollte, wollte mir nicht in den Kopf.
In rascher Folge erinnerte ich mich an Augenblicke unseres gemeinsamen Lebens: an sein größtes Legohaus, sein blutiges Knie nach seinem schlimmsten Fahrradsturz, seine Tränen, als sein Hund von einem Auto überfahren worden war, seine schönste Holzfigur, die er mir geschenkt hatte, sein Butterbrot, das er mir in den Schulpausen tausendmal zum Beißen hingehalten hatte, weil ich die Marmelade, die seine Mutter selber machte, so gerne aß. Ich hatte den Himbeergeschmack im Mund, ich roch seinen Duft, der mir in die Nase gestiegen war, wenn wir uns aneinander festgehalten hatten. Wie oft hatten wir das getan, einfach so. Beim Lachen, beim Toben, beim Schlittenfahren zu Silvester, beim Inlineskaten, beim Tanzen auf den Schulfesten, beim Balgen im See.
Schon standen wir vor seinem Elternhaus. Sechs Personen, zu allem bereit. Sechs Personen, die sofort Aufklärung verlangten. Sechs Personen, die fast alle nur einen einzigen Gedanken im Kopf hatten: Rüdiger war’s! Was auch immer. Er ist der Täter.
Wäre Rüdiger in diesem Augenblick wirklich daheim gewesen, wer weiß, vielleicht wäre die Situation eskaliert.
Doch Rüdiger war nicht zu Hause.
»Da seht ihr’s! Er hat sich aus dem Staub gemacht!«, schrie mein Onkel und war nun so aufgewühlt, dass ihm die Tränen in die Augen traten und er sich an meinem Vater festhalten musste. Der wischte sich mit einerHand den Schweiß von der Stirn und winkte mit der anderen den Polizisten, die meine Mutter verständigt hatte und die fast zeitgleich mit uns eintrafen.
Rüdigers Eltern erschraken, als sie das Aufgebot von Nachbarn und Polizei vor ihrer Haustür sahen. Sie wussten nicht, wo ihr Sohn war, hatten ihn bei uns vermutet und seit dem Mittag weder ihn noch das Mofa gesehen. Als sie erfuhren, was vorgefallen war, waren sie sprachlos.
Der Vater fasste sich mit der Hand an den Magen und hielt sich am Türrahmen fest, die Mutter hatte die Augen aufgerissen und stammelte: »Aber . . . aber das ist unmöglich, dass unser Rüdiger so was . . . Er tut keiner Fliege was zuleide.«
»Das behauptet auch niemand«, versuchte der Polizist, der auch schon am See gewesen war, die Situation zu entschärfen. »Allerdings ist Ihr Sohn der Letzte, von dem wir wissen, dass er das vermisste Mädchen gesehen hat. Daher müssen wir dringend mit ihm sprechen.«
»Ich weiß nicht, wo er ist!«, rief die Mutter und blickte sich hektisch um. Leute gingen vorbei, glotzten, die ganze Straße hatte längst mitbekommen, was geschehen war.
»Wo könnte er denn sein?«, fragte ein anderer Polizist. »Ist Philipp vielleicht zu Hause?«
Die Mutter schüttelte den Kopf und sah immer wieder Hilfe suchend Rüdigers Vater an, der sich überhaupt nicht äußerte, sondern dazu übergegangen war, stumm vor sich hin zu starren.
»Vielleicht hat sich dieser Zeuge ja auch getäuscht und es war gar nicht unser Sohn, mit dem das Mädchenzusammen war«, flehte Rüdigers Mutter, als sie sah, dass ein zweiter Polizeiwagen auf der Straße hielt.
»Wir
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