Sommerhaus mit Swimmingpool
lösen, wenn man etwas darunterschob: eine Pinzette, ein Wattestäbchen, den abgelutschten Stiel von einem Eis. Ich betrachtete den großen Zeh und den todgeweihten Nagel. Nichts konnte mich jetzt mehr aufhalten. Ich dachte an einen Hammer. Nicht den, den Caroline und ich benutzten, um die Heringe in den Boden zu schlagen. Das war ein weicher Hammer. Ein nachgiebiger Hammer. Ein abgerundeter Gummihammer, mit dem man wenig Schaden anrichten konnte. Nein, ein echter Hammer musste her. Ein Hammer aus Stahl, der den brüchigen Zehennagel mit einem einzigen gezielten Schlag zerschmettern würde. Der ihn in Tausende Stücke zerspringen lassen würde. Darunter befand sich weicheres Gewebe. Es würde eine blutige Schweinerei geben. Splitter vom Nagel würden in alle Richtungen fliegen, an die Wände und den Witz von einer Klotür, wie der Zahnstein unter dem Bohrer einer Dentalhygienikerin. Ein Schleier senkte sich vor meine Augen. Ich sah rot, wie man so sagt, obwohl es eher ein Grau war, grau wie ein Regenschauer oder wie plötzlich aufkommender Nebel. Ich könnte den Mann an seinen Knöcheln packen undunter der Tür durch herausziehen. Aber mir fehlte noch der Hammer.
»Scheiße …«
Erst durch die Stille, die folgte, wurde mir bewusst, dass ich laut gedacht hatte.
»Hallo? Ist da jemand?«
Ein Landsmann. Ein Holländer. Man hätte es ahnen können. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich es vom ersten Augenblick an gewusst, als er mit seiner Klopapierrolle in mein Blickfeld geschlurft war.
»Du Widerling!«, rief ich. Die Hände des Mannes griffen nach seiner roten Hose und zogen sie hoch. Ich richtete mich auf. »Du Schmutzfink. Du solltest dich schämen. Es sind Kinder auf dem Campingplatz. Die sehen diese Schmuddelei auch.«
Auf der anderen Seite blieb es totenstill. Wahrscheinlich war er unschlüssig, ob er rauskommen oder auf Nummer sicher gehen und warten sollte, bis ich gegangen war.
Das tat ich schließlich. Draußen wurde ich vom Licht der Sonne geblendet, doch ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Da war unser Zelt, da war das Laufgitter mit Lisa unter dem Kastanienbaum, aber von Julia und ihrem Dreirad keine Spur.
»Julia?«, rief ich. »Julia?«
Das Gefühl kannte ich, mir war meine ältere Tochter schon einmal abhandengekommen. Auf einer Kirmes. Ich hatte mich angestrengt, ruhig zu bleiben, aber mein Herz hatte vor Panik so laut gehämmert, dass es die Musik der Drehorgeln und das Kreischen der Leute in der Achterbahn um einiges übertönt hatte.
»Julia!«
Ich lief den Weg hinunter bis dahin, wo er in einer Kurve hinter einer hohen Hecke verschwand. Dort war eine andere Zeltwiese.
»Julia?«
Vor einem kleinen blauen Zelt hockten zwei Frauen im Gras und spülten Geschirr. Sie hielten kurz inne und sahen mich fragend an, aber ich rannte an ihnen vorbei. Links vom Weg, ein paar Meter weiter unten, hörte ich den Bach plätschern, in dem wir nachmittags oft schwimmen gingen.
»Julia?«
Ich stolperte über einen großen, runden Stein und verstauchte mir den Knöchel. Ein dorniger Zweig schlug mir gegen die Wange, direkt unter dem Auge. Mit drei, vier humpelnden Schritten war ich am Ufer.
Das Dreirad stand an einer seichten Stelle mit dem Vorderrad im Wasser.
Ich rannte weiter, rutschte aus und landete in einem Sprühregen auf dem Hintern.
Dann sah ich Julia. Sie stand am Ufer und warf mit Kieselsteinen. Als sie mich breitbeinig im Wasser sitzen sah, begann sie vor Vergnügen zu quietschen.
»Papa!«, rief sie und streckte die Arme in die Luft. »Papa!«
Es dauerte keine Sekunde, und ich war bei ihr.
»Verdammt!«, sagte ich und packte sie grob am Handgelenk. »Was hab ich dir gesagt? Du sollst auf dem Weg bleiben! Auf dem Weg!«
Eine volle Sekunde lang sahen die Augen meiner Tochter mich an, als wäre alles ein Scherz – Papa ist zum Spaß ins Wasser gefallen, jetzt ist Papa zum Spaß böse –, aber dann brach etwas in ihrem Blick. Ihr Mund verzog sich, und sie versuchte, ihren Arm zu befreien.
»Papa …«
Noch jahrelang sollte mich dieser Blick verfolgen, und jedes Mal sollten mir dabei wieder die Tränen in die Augen schießen.
»Marc! Marc! Was machst du?«
Caroline stand oben zwischen den Bäumen, eine Milchflasche in der Hand. Sie schaute von mir zu Julia und wieder zurück.
»Marc!«
»Ich kann nicht mehr«, sagte ich eine halbe Stunde später, als Julia sich beruhigt hatte und schon wieder, als wäre nichts geschehen, auf ihrem Dreirad den Weg rauf- und
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