Sommerhaus mit Swimmingpool
der auf einem Blatt kaute. Ich schaute unmissverständlich: wie ein Mann, der auf den Mund einer Frau blickt. Doch ich blickte auch wie ein Arzt. Mit dem Ärzteblick. Du kannst mir viel erzählen über Münder , sagte der Blick. Aber für uns haben auch Münder keine Geheimnisse .
»Am Anfang schon«, sagte Judith. »Am Anfang war es komisch. Es war fast so, als wären meine Eltern noch da. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich ihnen begegnet wäre: im Badezimmer, in der Küche, hier im Garten. Bei meinem Vater natürlich eher als bei meiner Mutter. Ich meine, meine Mutter ist natürlich noch öfter hier, das ist also anders. Sie ist auch da,vielleicht hast du sie ja gesehen. Aber wir haben schon sehr bald das Haus umbauen lassen. Wände durchgebrochen, aus zwei Zimmern eins gemacht, eine andere Küche und so. Das Gefühl war dann weg. Nicht ganz, aber fast.«
Der Mund ist ein Mechanismus. Ein Instrument. Der Mund nimmt Sauerstoff auf. Er kaut das Essen und schluckt es runter. Er schmeckt, er fühlt, ob etwas zu heiß oder zu kalt ist. Ich sah Judith inzwischen wieder in die Augen. Und sah sie an, während ich über Münder nachdachte. Ein Blick sagt mehr als tausend Worte . Das ist ein Klischee. Doch ein Klischee sagt auch mehr als Worte.
»Und dein Zimmer?«, fragte ich. »Dein Mädchenzimmer? Hast du da auch die Wand durchgebrochen?«
Während ich das Wort Mädchenzimmer aussprach, kniff ich die Augen für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, hob den Kopf und sah zu den zwei oberen Stockwerken des Hauses hinauf. Es war eine Aufforderung. Eine Aufforderung, mir ihr früheres Mädchenzimmer zu zeigen. Sofort oder später am Nachmittag. In dem Zimmer würden wir uns alte Fotos ansehen. Alte Fotos in einem Fotoalbum. Sitzend auf dem Rand eines Einzelbetts, das früher ihr Mädchenbett gewesen war. Judith auf der Schaukel. Im Schwimmbad. Mit Mitschülern für den Schulfotografen auf dem Schulhof posierend. Im richtigen Augenblick würde ich ihr das Album aus der Hand nehmen und sie sanft rückwärts auf das Bett drücken. Nur der Form halber würde sie sich kurz sträuben. Kichernd würde sie ihre Hände gegen meine Brust drücken. Doch die Fantasie würde stärker sein. Eine alte Fantasie war es, so alt wie das Mädchenzimmer selbst. Der Doktor kommt vorbei. Der Doktor misst die Temperatur. Der Doktor legt einem die Hand auf die Stirn. Der Doktor schickt die besorgten Eltern weg und bleibt noch kurz auf der Bettkante sitzen.
»Nein«, sagte Judith. »Mein Zimmer ist jetzt das von Thomas. Er hat die Wände selber gestrichen. Rot und schwarz.Und ja, wenn du es wissen willst: die Wände waren vorher violett und rosa.«
»Und auf dem Bett lagen viele violette und rosa Kissen und noch mehr flauschige Kuscheltiere«, sagte ich. »Und an der Wand ein Poster von …« – es war zu riskant, einen Popstar oder Schauspieler zu nennen – »einer Robbe«, sagte ich. »Einer süßen Robbe.«
Ich muss an dieser Stelle eine Charaktereigenschaft erwähnen, die ich besitze: Ich bin unterhaltsamer als die meisten Männer. Wie man den Frauenzeitschriften entnehmen kann, gehört zu den meistgeschätzten männlichen Eigenschaften der ›Sinn für Humor‹. Lange Zeit hielt ich das für ein Märchen: Wenn es darauf ankommt, wollen die Frauen doch lieber einen George Clooney oder Brad Pitt. Aber inzwischen sehe ich das anders. Mit ›Sinn für Humor‹ meinen Frauen nicht, dass sie sich ständig über einen Witz ihres Partners vor Lachen kugeln wollen, sondern dass er unterhaltsam ist. Nicht spaßig, sondern unterhaltsam. Insgeheim haben nämlich alle Frauen Angst, sich auf die Dauer mit den zu gut aussehenden Männern dieser Welt, die genau wissen, wie gut sie aussehen, zu langweilen. Diese Männer brauchen sich nicht anzustrengen. Frauen in Hülle und Fülle. Aber schon nach der Hochzeitsnacht geht ihnen der Gesprächsstoff aus. Die Langeweile droht. Es ist auch ermüdend, den ganzen Tag einen Mann als ein sich selbst bewunderndes Spiegelbild um sich zu haben. Tagaus, tagein. Die Zeit wird zu einem schnurgeraden Weg durch eine schöne, doch sterbenslangweilige Landschaft. Eine Landschaft, die sich nie verändert.
»Fast«, sagte Judith.
»Ein Pferd. Nein, ein Pony. Du hast Pferdebücher gelesen.«
»Ja, ich habe manchmal Pferdebücher gelesen. Aber es war kein Pferd auf dem Poster. Und auch kein Pony.«
»Papa …« Ich fühlte eine Hand an meinem Ellenbogen und sah zur Seite. Da stand Julia mit dem phlegmatischen
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