Sommerhaus mit Swimmingpool
an den Mund, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und sah auf seine blutigen Finger.
»Du dreckiges Flittchen!«, schrie er.
Bevor Stanley oder ich eingreifen konnten, hatte er schon mit geballter Faust ausgeholt, aber da er noch etwas wacklig auf den Beinen stand, verfehlte er sein Ziel.
»Ralph!«, rief Stanley. »Mach keinen Unsinn!«
»Dreckige Schlampen!«, schrie Ralph. »Erst alle geil machen und dann Mutter Teresa spielen. Zum Kotzen!«
Er packte das Mädchen am Handgelenk und zog so heftig, dass sie in den Sand fiel. Sie schrie. Wie ein Fußballer, der zu einem Freistoß ansetzt, nahm Ralph Anlauf. Noch rechtzeitig erkannte ich, dass er ihr in den Magen treten wollte.
»Ralph!« Ich warf mich gegen seine Schulter und trat ihm gleichzeitig mit aller Kraft gegen das Schienbein. Da sich sein anderes Bein noch in der Luft befand, war er im Nachteil. Erschwankte noch eine volle Sekunde hin und her, bevor er ganz langsam, wie ein Gebäude, das mit Dynamit zum Einsturz gebracht wird, in sich zusammensackte. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen den Tresen. Ich hörte etwas knacken, es war mir nicht deutlich, ob es sein Schädel war oder das Holz.
Von allen Seiten waren inzwischen Leute herbeigerannt. Vor allem Männer. Männer, die schrien, Männer, die Stanley und mich festhielten. Männer, die sich um das norwegische Mädchen kümmerten. »Immer mit der Ruhe!«, hörte ich Stanley rufen, aber ich konnte ihn nicht mehr entdecken, er stand nicht mehr da, wo er gerade noch gestanden hatte.
»Stanley!«, rief ich. Zwei Männer hatten mich rückwärts zu Boden gezogen. Ein dritter drückte mir seine Knie so heftig auf die Brust, dass mir die Luft wegblieb. »Immer mit der Ruhe!«, japste ich. »Seid doch vernünftig.«
Aus den Augenwinkeln sah ich das norwegische Mädchen auf Ralph sitzen und ihm ein paarmal mit der Faust ins Gesicht schlagen, bis es von zwei Männern weggezogen wurde.
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28
Ich stand in der Toilette des Restaurants, in dem wir am ersten Abend gegessen hatten, und inspizierte mein linkes Auge im Spiegel über dem Waschbecken. Es war geschwollen und blutunterlaufen. Irgendetwas – ein Sandkorn, ein Muschelsplitter, ein winziges Steinchen – musste hineingeflogen sein. Auf die Hornhaut. Oder, wer weiß, dachte ich, und schon beschleunigte sich mein Atem und mein Herz begann lauter zu pochen, wer weiß, womöglich hatte das Sandkorn oder das Steinchen ja schon die Hornhaut durchbohrt und steckte nun in der flüssigen Substanz tiefer im Augapfel.
Mit Augen hatte ich immer meine Probleme. Mir macht sonst nichts was aus – offene Wunden und Knochenbrüche, eine verschlissene Hüfte, an die die Kreissäge angesetzt wird, Blut, das an die Decke des Operationssaals spritzt, ein Schädel mit einem viereckigen Loch, bloß liegendes Hirn, ein Herz, das pulsierend in einer Schale liegt, blutige Verbandgaze in einem vom Hals bis zum Nabel aufgeklappten Brustkorb – alles kann ich ungerührt betrachten, außer Dinge, die mit den Augen zu tun haben. Dinge, die da nicht reingehören, wie Glassplitter, Sand, Staub, halb hinter den Augapfel gerutschte Kontaktlinsen … Ich verweise Patienten ungern an Spezialisten, aber Leute, die mit geschwollenen, blinzelnden Augenlidern im Wartezimmer sitzen, kommen mir nicht ins Sprechzimmer. »Der Mann, der sich das blutige Taschentuchans Auge drückt«, sage ich zu meiner Assistentin, »sorg dafür, dass er verschwindet. Und zwar auf der Stelle. Schick ihn zur Ersten Hilfe. Oder schreib ihm eine Überweisung zum Augenarzt. Ich habe noch nicht gefrühstückt.«
Ich weiß nicht, woran es liegt, sicher hat es mit irgendwas zu tun, das vor langer Zeit passiert ist. Irgendwas, das ich verdrängt habe. Die meisten Phobien haben ihren Ursprung in den ersten vier Lebensjahren: Angst vor Spinnen, vor Wasser, vor Frauen, vor Männern, vor offenen Flächen oder vor tiefen Schluchten, vor Kröten oder Heuschrecken, glotzenden Fischköpfen auf Tellern, Wildwasserrutschen, Möbelzentren, Fußgängerunterführungen – um nur einige Beispiele zu nennen. Ein traumatisches Erlebnis, sagen die Leute und gehen zum Analytiker. Nach jahrelangem Graben und Wühlen wird schließlich etwas zutage gefördert: die im Supermarkt verloren gegangene Mutter, ein heißer Tropfen Kerzenwachs, die Nacktschnecke im Tennisschuh, der nette Onkel, der Rauchkringel durch eine zusammengerollte Zeitung blies, einem dann aber abends am Pimmel herumfingerte, die Tante mit den Warzen und dem
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