Sommerhaus mit Swimmingpool
schmollender Thomas. Ralph sei schon zurückgefahren, hatte mir Judith auf dem Weg von der Strandbar gesagt, mit ihrem eigenen Wagen. Von Stanley noch immer keine Spur.
»Was ist mit deinem Auto passiert?«, fragte Judith und zeigte auf die vordere schief hängende Stoßstange. Die Kappe des linken Scheinwerfers war zerbeult und an einer Stelle eingerissen, das Glas war kaputt. Du musst morgen früh gleich zur Werkstatt und es reparieren lassen , hatte Stanley vor nur wenigen Stunden hier auf diesem Parkplatz zu mir gesagt. Geht auf meine Rechnung, das war mir der Spaß wert.
»Wir sind da oben auf der dunklen Straße gefahren«, sagte ich, »und haben, glaub ich, einen Baum gestreift.«
Judith fragte nicht weiter. Sie hielt die hintere Wagentür auf, damit ich Julia auf den Rücksitz legen konnte, stieg auch hinten ein und legte Julias Kopf sanft auf ihren Schoß. Sie rückte etwas zur Seite, sodass auch Alex noch Platz hatte. Thomas und Lisa sollten sich zusammen auf den Beifahrersitz setzen.
»Das darf man doch gar nicht!«, sagte Thomas. »Das ist verboten.«
»Thomas …«, sagte Judith. Das reichte. Die Arme trotzig verschränkt, setzte er sich neben Lisa.
Bevor ich den Motor startete, rief ich Caroline an.
»Erschrick nicht. Es ist nichts Schlimmes«, sagte ich. Das war gelogen, aber ich wollte sie nicht allzu sehr beunruhigen. Ich sprach so leise, dass Julia mich nicht hören konnte. »Es ist niemand verletzt«, sagte ich. Auch das war eine Lüge.
»Wir fahren jetzt los«, sagte ich und trennte die Verbindung.
Emmanuelle zog im Schlafzimmer das Betttuch gerade und rückte die Kissen zurecht. Während ich Julia vorsichtig hinlegte, ging Emmanuelle ins Bad und kam mit einer mit Wasser gefüllten Porzellanschüssel und einem Handtuch zurück. Sie setzte sich aufs Bett, befeuchtete einen Zipfel des Handtuchs und drückte ihn sanft gegen Julias Stirn.
»Voilà« , sagte sie und sah mich an. »You know what happened? You know who …?« Ich schüttelte den Kopf. Erst jetzt fiel mir auf,dass sie keine Sonnenbrille trug. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft. Zum ersten Mal sah ich ihre Augen.
»Mama …«
Ich fasste Julias Handgelenk. »Mama ist gleich da«, sagte ich.
Judith hatte angeboten, sich um unsere jüngere Tochter zu kümmern, aber nach einem kurzen Blickwechsel mit mir hatte Caroline Lisa an die Hand genommen und war mit ihr nach oben gegangen, gefolgt von Judith und Thomas. Ich hatte den Zwiespalt in ihren Augen gesehen. Sie wollte natürlich bei Julia bleiben, aber sie wollte auch unter den gegebenen Umständen ihre jüngere Tochter nicht einer Fremden überlassen. Eltern vernachlässigen oft das eine Kind auf Kosten des anderen. Von Anfang an folgte Caroline ihrer Intuition. Das versuchte ich zwar auch, aber es fiel mir zugegebenermaßen schwerer als ihr.
In dem Moment hörte ich schräg hinter mir ein Geräusch. Ich blickte über die Schulter und sah Ralph in der Tür stehen. Er hatte offenbar gerade geduscht. Das noch feuchte Haar klebte an seinem Schädel. Und er trug andere Sachen als am Strand: frische weiße Shorts und ein rotes T-Shirt.
»Ich habe gehört …« Er lehnte mit einer nach oben gestreckten Hand am Türpfosten und machte keine Anstalten hereinzukommen. »Judith sagte mir gerade …«
Ich hatte absolut kein Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, während meine Tochter hier lag. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle sich verpissen, uns einfach allein lassen. Aber ich dachte auch an die Zukunft. An die möglichen Täter. Ich hatte Ralph am Strand in Aktion gesehen. Ich war Zeuge gewesen, wie Julia nach ihrer Bikinihose gegriffen hatte, damals beim Tischtennis. Aber es war doch irgendwie ein zu großer Schritt. Von dem auf junge Mädchen abfahrenden Ralph, dem gewalttätigen Ralph – zu dem hier. Auch in zeitlicher Hinsicht war es eher unwahrscheinlich. War es denkbar, dassRalph nach dem Vorfall mit den Mädchen den ganzen Weg zur anderen Strandbar und wieder zurück zum Parkplatz gegangen und dann zum Sommerhaus gefahren war? War das in dem Zeitraum überhaupt möglich? Kaum. Als Judith von der zweiten Bar im Haus angerufen hatte, hatte Ralph den Hörer abgenommen. Nein, das stimmte so nicht: Sie hatte Ralph am Apparat gehabt, und er hatte gesagt , er sei im Haus. Ich musste auf der Hut sein wie zuvor bei Alex. Ich durfte absolut nichts und niemanden ausschließen.
Also konzentrierte ich mich und sah von Ralph zu meiner Tochter. Julia hatte die Augen geöffnet. Ich
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