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Sommerhaus mit Swimmingpool

Sommerhaus mit Swimmingpool

Titel: Sommerhaus mit Swimmingpool Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch , Pößneck GGP Media GmbH
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sah, wen sie anschaute. Sie schaute Ralph an und blinzelte mit den Augen.
    »Hallo …«, sagte sie leise.
    »Hallo, Kleines …«, hörte ich Ralph antworten.
    Ich studierte sein Gesicht, wie ich das bei meinen Patienten tat. Mit dem Blick des Arztes. Ich sehe sofort, ob einer ein Säufer ist, ob er mit einer Depression zu kämpfen hat oder unter schlechtem Sex leidet. Ich irre mich selten. Ich merke, wenn einer lügt. »Eine halbe Flasche Wein beim Essen, Doktor, mehr nicht …« Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Und nach der Arbeit?, bohre ich weiter. Genehmigen Sie sich da nicht erst noch einen am Tresen, bevor Sie nach Hause gehen? »Höchstens ein oder zwei Bier. Aber nur gestern, das kommt nicht jeden Tag vor.« Hat Ihr Mann vielleicht öfter einen vorzeitigen Samenerguss?, frage ich die Frau mit den tiefen blauen Ringen unter den Augen. Wünschen Sie sich vielleicht manchmal auf sexuellem Gebiet etwas von Ihrem Mann, trauen sich aber nicht, mit ihm darüber zu reden? Ich höre jemanden im Wartezimmer fröhlich vor sich hin pfeifen. Als er in mein Sprechzimmer kommt, pfeift er immer noch. Selbstmord ist eine Möglichkeit , sage ich nach einer Minute. Manche Menschen finden Trost in dem Gedanken, dass sie die Beendigung ihres Lebens in der eigenen Hand haben. Allerdings schreckt sie die Ausführung ab. Die Art und Weise, wie. Sich vor den Zug werfen ist so brutal. Sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden so blutig. Sich erhängen ist schmerzhaft, es dauert lange, bis der Tod eintritt. Schlaftabletten sind auch nicht sicher, die kann man wieder auskotzen. Aber es gibt Substanzen, die ein leichtes Ende garantieren. Ich könnte Ihnen zu solchen Mitteln verhelfen …
    Ralph Meier kniff sich in den Nasenrücken. Er drückte die Fingerspitzen in die Augenwinkel. »Ach, verflucht …«, murmelte er. Keinen Augenblick vergaß ich, dass er Schauspieler war. Einer dieser Ausnahmeschauspieler. »Möchtest du etwas trinken, Marc? Soll ich dir was zu trinken holen? Ein Bier? Oder vielleicht einen Whisky?«
    Ich schüttelte den Kopf und wendete mich wieder meiner Tochter zu. Etwas fiel von mir ab, als ich ihr Gesicht sah. Etwas. Nicht alles. Ein kleines bisschen von dem Gewicht, das seit ein paar Stunden auf mir lastete. Das mein ganzes restliches Leben auf mir lasten würde, wie mir schon damals klar war.
    Auf Julias Gesicht war ein schwaches Lächeln zu erkennen, während sie immer noch Ralph ansah.
    »Ich möchte gerne etwas trinken«, sagte sie. »Ich habe einen schrecklichen Durst. Ein Glas Milch wäre toll.«
    »Ein Glas Milch«, sagte Ralph. »Kommt sofort.«

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33
    An jenem Abend fing unser restliches Leben an. Ich will hier gleich hinzufügen, dass ich kein Freund von falschem Pathos und theatralischen Sprüchen bin. Unser ganzes restliches Leben … Ich hatte es Leute oft genug sagen hören. Leute, die jemanden verloren hatten. Denen etwas zugestoßen war, was man niemandem wünscht – etwas, über das man nie mehr hinwegkommt. Trotzdem hatte der Ausdruck für mich immer einen unechten Beigeschmack. Es muss einem erst selbst widerfahren. ›Das restliche Leben‹ trifft den Nagel auf den Kopf. Alles wiegt plötzlich schwerer. Vor allem die Zeit. Es geschieht etwas mit der Zeit. Sie steht nicht still, aber sie verlangsamt sich. Es ist wie in einem Wartezimmer, an dessen Wand eine große Uhr hängt. Man sitzt eine Ewigkeit da, und wenn man zur Uhr schaut, stellt man fest, dass erst drei Minuten vergangen sind. Die gefühlte Zeit. Der Tag, der mit allem Möglichen gefüllt ist, »fliegt vorbei«, wie man so sagt. Der Tag, den man wartend verbringt, nimmt kein Ende. Erst recht, wenn man nicht weiß, worauf man wartet. Man sitzt im Wartezimmer und vermeidet es, zur Uhr zu sehen. Man weiß nicht, worauf man wartet. Die Einrichtung, zu der das Wartezimmer gehört, wurde wahrscheinlich schon vor langer Zeit geschlossen. Aber da ist niemand, der einem die Augen öffnet. Niemand, der zu einem sagt: Gehen Sie doch nach Hause, was sitzen Sie denn hier herum?
    In einem Moment ist man eine Familie mit zwei netten Töchtern und im nächsten sitzt man im Wartezimmer. Man wartet auf nichts. Im Grunde wartet man nur darauf, dass die Zeit vergeht. Alle Hoffnung hat man auf das Verstreichen der Zeit gesetzt. Nein, nicht alle Hoffnung. Die einzige Hoffnung. Je mehr Zeit vergeht, desto weiter entfernt man sich von dem Punkt, an dem das restliche Leben begann. Aber man weiß nicht, wo es endet. Unser restliches

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