Sommerhaus mit Swimmingpool
Leben dauert bis zum heutigen Tag an.
Später sollte ich jenen ersten Abend noch oft genug bis in die kleinsten Details rekonstruieren. Ralph, der das Glas Milch brachte und wieder ging. Caroline, die herunterkam und Emmanuelle am Kopfende des Bettes ablöste. Sie hielt Julias Hand. Ab und zu strich sie ihr übers Haar.
Über einen Moment möchte ich nicht zu viele Worte verlieren. Aus privaten Gründen. Ich fragte Julia behutsam, ob ich einmal schauen dürfe, ob nichts … Ich war zwar Arzt, aber auch ihr Vater. »Wenn du es nicht möchtest, sag es ruhig. Wir können zu einem Arzt hier in der Stadt. Oder ins Krankenhaus.« Bei dem Wort ›Krankenhaus‹ biss sie sich auf die Lippe. »Nein, so schlimm ist es nicht«, sagte ich rasch. »Wir brauchen da nicht hin. Aber ich muss doch kurz mal gucken, ob wir etwas tun müssen. Jemand muss es tun …«
Sie nickte und schloss die Augen. Ich schlug vorsichtig die Decke zurück. Vor vielen Jahren war Julia einmal in der Dusche ausgerutscht und auf den Metallrand gefallen. Sie hatte ein bisschen geblutet. Auch … da. Es war nicht sehr schlimm gewesen, sie war vor allem erschrocken gewesen. Ich hatte sie beruhigt. Als ihr Vater. Und gleichzeitig hatte ich getan, was getan werden musste. Als Arzt.
Das versuchte ich jetzt auch. Doch diesmal war alles anders. Julia weinte mit geschlossenen Augen. Caroline wischte ihr mit dem Zipfel des Handtuchs die Tränen weg und flüsterte Koseworte. Ich stellte möglichst wenig Fragen. Ichtat, was getan werden musste, und deckte sie dann wieder zu.
Caroline und ich sahen einander an. Ohne es aussprechen zu müssen, wussten wir, dass wir uns beide dieselbe Frage stellten, ob dies der richtige Moment sei oder ob sich Julia erst ausruhen sollte. Schlafen. Einerseits wollten wir sie vor der Erinnerung schützen, andererseits war rasches Handeln notwendig.
Auf dem Weg vom Strand zum Parkplatz hatte ich es sie schon ein paarmal gefragt. Ich hatte es ihr ins Ohr geflüstert, damit Judith es nicht hörte. Wer? Wer war es? Jemand, den du kennst?
Julia hatte zuerst keine Antwort gegeben. Hatte sie mich nicht gehört? Schließlich sagte sie: »Ich weiß es nicht, Papa …«
Ich hatte es dabei belassen. Sie hatte einen Schock. Das Gedächtnis wird dadurch blockiert.
Ich nickte Caroline zu. Es war an ihr, darüber waren wir uns wortlos einig. Die Frage musste die Mutter stellen.
»Julia«, sagte Caroline leise, während sie sich über ihre Tochter beugte und eine Hand an ihre Wange legte, »kannst du uns sagen, mit wem … wer bei der Strandbar bei dir war?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.«
Caroline strich ihr über die Wange.
»Du warst zuerst mit Alex zusammen. Und dann? Danach? Was ist danach passiert?«
Tränen ließen sie blinzeln. »War ich mit Alex zusammen? Wo war ich mit Alex?«
Caroline und ich sahen einander an.
Julia hatte wieder angefangen zu weinen.
»Ich weiß es nicht …«, schluchzte sie. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Später in der Nacht kam auch Stanley zurück. Er sei die ganze Strecke gelaufen. Er habe kein Auto von uns mehr auf dem Parkplatz stehen sehen und daher angenommen, wir hätten ihn einfach vergessen.
Er und Emmanuelle boten uns an, in ihrem Apartment zu bleiben, sie würden im Zelt schlafen. Normalerweise sagt man bei so einem Angebot erst ein paarmal, es sei wirklich nicht nötig – aber die Umstände waren nicht normal. Nichts war normal. Mit Stanley ging ich zu unserem Zelt, um ein paar Sachen zu holen, damit sie mehr Platz hatten. Er legte den Arm um mich. Er wiederholte, wie schrecklich er es finde. Für uns. Für Julia. Er fluchte. Auf Amerikanisch. Ebenfalls auf Amerikanisch sagte er, was mit Männern, die so etwas täten, geschehen müsse. Ich war ganz seiner Meinung.
Er drückte meine Hand, holte seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und bot mir eine an.
»Es ist da noch was …«, sagte er.
Wir standen vor dem Zelt und rauchten. Stanley erzählte, er sei vom Strand auf demselben Weg zurückgelaufen, den wir auf dem Hinweg genommen hatten.
»Sein Auto stand immer noch da«, sagte er. »An derselben Stelle. Das kam mir komisch vor.« Er schaute sich kurz zum Haus um. »Es war nicht abgeschlossen«, sagte er jetzt fast flüsternd. »Und ein Fenster war ganz heruntergelassen. Das ist doch merkwürdig, oder? Ich meine, wer lässt denn sein Auto so stehen? Ich habe noch geguckt, ob es vielleicht feststeckte. Aber das war nicht so, er hätte einfach
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