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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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meinem Zimmer, klimperte auf der Gitarre und sah dabeiin den großen Spiegel, den ich kurz nach meiner gewalttätigen Katharsis an der Wandseite hinter dem Fußende des Bettes aufgehängt hatte. Neben mir, auf dem Bett, lagen die Bewerbungsunterlagen für die Hochschule der Künste. Das Telefon klingelte im Flur, eine kurze Vier-Takte-Melodie, die ich sofort nachspielte, wie alle Tonfolgen um mich herum. So zum Beispiel auch die aus Mamas Nostalgiephasen, wenn sie plötzlich, wenn auch nicht immer unerwartet, den Fernseher aufdrehte. So schaute sie täglich das Ost-Sandmännchen, weil Klaus-Peter das geliebt hatte. Ich saß währenddessen meist auf meinem Bett, die namenlose Nachfolgerin von
Karen
auf dem Schoß, und begleitete ihren wehmütigen Ausflug. Ich wusste, sie hockte dann im Schneidersitz auf dem IKEA-Sofa im Wohnzimmer, die Hände unter den Oberschenkeln, und wenn die Melodie verklang, hatte sie Rührungstränen in den Augenwinkeln. Manchmal setzte ich mich auch zu ihr, dann blickten wir uns an, wenn Puppendoktor Pille, Pittiplatsch, Schnatterinchen, Herr Fuchs oder Frau Elster ihr sozialistisch-erzieherisches Stop-Motion-Spektakel beendet hatten. Wir dachten vermutlich dasselbe, aber ich wusste nicht, ob es sie auch so verängstigte, dass dieses starke Gefühl des Vermissens mit der Zeit nachließ und einem anderen wich. Ich dachte immer noch häufig an Sonja und Papa, nicht nur bei diesen Gelegenheiten, aber es fühlte sich irgendwann einfach weniger schmerzhaft an.
    »Es ist für dich!«, rief Mama. Ich legte die Gitarre ohne Namen beiseite, warf im Hinausgehen noch einen kurzen Blick in den Spiegel – und es gefiel mir, was ich sah.
Das
würde ich mir irgendwann wieder abgewöhnen müssen.
    Karen war am Apparat. Sie würde Anfang September nach Berlin kommen, wie sie mir aufgeregt mitteilte, in ihrem lustigen Dialekt mit dem gerollten R, den ich nie vergessen hatte.
    Wir telefonierten regelmäßig seit dem Frühjahr, und beinahe hätte sie es geschafft, mich im Krankenhaus zu besuchen, doch dann wurde Manfred krank, und Karen musste im Laden der Eltern aushelfen. Außerdem schrieben wir uns, lange und sehr ausführliche Briefe. Karen war der erste Mensch außerhalb meiner ehemaligen Schulklasse – möglicherweise von Lutz Bährmann abgesehen –, der erfuhr, was in Frankreich geschehen war und wer tatsächlich hinter dem Überfall steckte. Ich nahm ihr vor dieser Eröffnung das Versprechen ab, in keinem Fall, um keinen Preis jemals darüber zu reden, was ihr außerordentlich schwer fiel. Sie rief mich aufgebracht und wütend an, als der Brief mit der ganzen Erzählung bei ihr eintraf, und versuchte fast eine Stunde lang, mich davon zu überzeugen, irgendwas zu unternehmen.
    Karen hatte einen Freund und war verlobt, was mich kaum störte. Neben Mike Carey, der mich inzwischen kostenlos unterrichtete und im Herbst zu einem Auftritt mitnehmen wollte, bei dem ich ihn bei zwei Stücken begleiten sollte, war sie mein einziger Freund. Ich fühlte mich noch immer irgendwie zu ihr hingezogen, zu der Erinnerung an diesen Sommer am Balaton, aber es war jetzt noch viel schöner, ihr Briefe zu schreiben, in denen ich endlich alles erzählen konnte, oder nachmittagelang sündhaft teure Ferngespräche mit ihr zu führen. Sie war tatsächlich der erste Mensch, mit dem ich über meine Gefühle, Ängste und Sorgen sprach, und ich versuchte nie, das Rätsel zu lösen, warum ich ihr so sehr vertraute. Karen würde noch im Herbst aus Ingolstadt nach Marburg umziehen, um dort tatsächlich Biologie zu studieren, so wie sie es vier Jahre zuvor gesagt hatte, und ich erzählte ihr jetzt von der Möglichkeit, mein Versprechen ebenso einzulösen – und Musiker zu werden. Im Gegensatz zu ihr konnte ich mir kaum etwas darunter vorstellen.
    »Dafür musst du nicht an die Kunsthochschule«, sagte sie.
    »Sondern?«
    »Das kommt drauf an. Was genau willst du tun? Studiomusiker werden? Komponist? Solo-Künstler? Bandleader? Was stellst du dir vor? Was will heraus, was ist deine Motivation?«
    Ich zuckte die Schultern und versagte mir dabei, den Spiegel im Flur anzulächeln.
    »Ich will einfach Musik machen«, sagte ich.
    »Für wen?«
    Das war eine gute Frage.
    »Geh mit Mike in die Künstlerkneipen«, schlug sie in mein Schweigen vor. »Lern Leute kennen. Besuch die Studios. Schau dir meinetwegen die Hochschule an, setz dich in ein paar Kurse. Geh in Konzerte.«
    Das tat ich sowieso schon, zusammen mit Mike – seit dem Frühsommer

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