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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Augen.
    Trotzdem spürte ich, wie Gerrys Gesicht dem meinen ganz nahe kam.
    »Das hier wirst du für lange Zeit nicht vergessen. Es wird dich daran erinnern, dass wir stärker sind als du. Und das werden wir immer bleiben.« Er lachte fies, zog sein Gesicht zurück. Ich atmete durch und öffnete die Augen. Henning hatte sich neben mich gekniet, und er hielt etwas sehr vorsichtig in der rechten Hand.
    »Nun mach schon!«, befahl Thomas. Henning sah kurz zu ihm auf und dann wieder zu mir. Gerald streckte theatralisch die Arme und gab mir dann wieselflink zwei kräftige Backpfeifen. Mein Gesicht wurde heiß, aber noch waren es die Nase und mein Rücken, die am stärksten schmerzten.
    »Betäubung«, sagte er, leicht krächzend. Es bereitete ihm Lust, bemerkte ich.
    Henning beugte sich vor.
    »Halt ihn gut fest«, flüsterte er in Gerrys Richtung.
    Und dann schnitt er mir mit einer Rasierklinge ins Gesicht. In die Wangen, in die Nase, in die Haut unter den Augen. Die Ohrfeigen hatten tatsächlich leicht betäubende Wirkung, aber als Henning kurz das Gleichgewicht verlor und mir die rechte Wange bis zum Zahnfleisch aufschlitzte, schrie ich endlich. Ich brüllte, rief um Hilfe, während Blut in meine Augen floss, in meinen Mund, mir sogar die Kehle hinunterrann. Ich presste meinen Brustkorb nach oben, um Gerry abzuschütteln, strampelte mit den Beinen und brüllte wie ein Wahnsinniger. Gerald sprang auf, Henning fiel auf den Rücken.
    »Das reicht, lasst uns abhauen!«, befahl Thomas. Dann ging er in die Knie, zog an meinem rechten Ohr und flüsterte inmein Geschrei: »Keinen Mucks.« Das hörte ich zum dritten Mal in meinem Leben, und zum zweiten Mal von ihm. »Die nächste Runde überlebst du nicht.«
    Ich brüllte einfach nur weiter, minutenlang, bis mich jemand in die Höhe zog – ein Pförtner aus dem RIAS-Gebäude, wie ich später erfuhr – und zur Straße schleifte, wo schon ein Funk- und ein Notarztwagen warteten.

Erlösung (1984)
     
    Der erste Aufenthalt im Klinikum Steglitz, derjenige unmittelbar nach dem Attentat, dauerte nicht sehr lange. Schon nach vier Tagen wurde ich entlassen, mit zig Nähten im Gesicht, von dem ich so gut wie nichts mehr fühlte, bis auf einen tauben Schmerz, der aber seltsamerweise von den Rändern zu kommen schien. Wenn ich, in meinem Bett im Vier-Personen-Zimmer liegend, nach meiner Nase oder Stirn tastete, geschah nichts. Es war, als wäre mein Gesicht nicht mehr vorhanden – ich fühlte lediglich, dass mein Finger etwas berührte, aber das hätte genauso gut ein zu bearbeitendes Stück Plaste sein können. Nur der Bereich um meinen Mund herum reagierte auf die Tastversuche. Meine Mutter saß in dieser Zeit fast ununterbrochen neben meinem Bett auf einem Metallstuhl, stumm, und drückte meine Hand wie eine Orange, die sie auszupressen versuchte, während sie in einer Mischung aus Angst und Verzweiflung mich oder die Wände anstarrte.
    Am Tag nach der Einlieferung wurde ich von zwei Polizisten besucht, die stark nach Muff und Zigarettenqualm stanken – meine Nase funktionierte offenbar noch, auch unter den Binden und Pflastern – und mich eher nachlässig zu dem Vorfall befragten. Ich erklärte, leise nuschelnd, im Park von zwei Unbekannten überfallen worden zu sein, die dunkle Masken getragen hatten und rabiat geworden waren, als sie merkten, dass bei mir nichts zu holen war. Das stimmte tatsächlich; ich hatte wie üblich den Zwanzigmarkschein eingesteckt, der für die Stunde bei Mike gedacht war, bevor ich mich auf den Weg zu ihm gemacht hatte, und war danach praktisch bargeldlos zurückgelaufen.
    »Sie können in meine Geldbörse schauen, die muss hier irgendwo sein.« Die beiden Polizisten nickten nur und schauten mich recht teilnahmslos an.
    »Sie sollten im Dunkeln nicht allein durch Parks wandern«, sagte einer von beiden zum Abschied. Der andere zog eine Augenbraue hoch und zeigte ihm kurz den Vogel, und beinahe hätte ich gelacht. Sie gingen, ich blieb zurück mit meinem tauben Gesicht und dem alten Mann im Nachbarbett, der ununterbrochen schlief und dabei laut schnarchte.
    Dem ersten Krankenhausaufenthalt folgten einige weitere, außerdem Besuche bei einem Neurologen. Vier Wochen später waren die weniger tiefen Narben verheilt, und tatsächlich kehrte stellenweise so etwas wie Gefühl in mein Gesicht zurück, aber es war anders als zuvor, in etwa so, wie eine Hand zu streicheln, die einen Handschuh trägt. Einige Nerven waren irreparabel beschädigt. Der Neurologe

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