Sommerhit: Roman (German Edition)
noch.
Ich setzte mich auf den niedrigen Barhocker links auf der Bühne, blinzelte ins Licht, vom Publikum war wie immer nichts zu sehen, aber es war zu spüren, zu riechen. Ich bekam eine Gänsehaut und musste, wie jedes Mal, den zum Scheitern verurteilten Versuch eines irren Grinsens unterdrücken, denn es gab fast nichts Großartigeres als genau
das
hier. Sie klatschten wieder, dann stärker, als Minka strahlend auf die Bühne geschlendert kam, sich kurz verbeugte und einen Handkuss in den Saal hauchte. Wir waren in Wiesbaden, wenn ich mich recht erinnerte, der Saal fasste siebenhundert Leute und war ausverkauft. Ich schob meinen Unterkörper vor, um das Schallloch der Gitarre in die richtige Position vor dem Mikrophon zu bekommen, drehte mit der linken Hand ein wenig am Gesangsmikro, das ich für die Chöre brauchte – eine dieser Gesten, dieser Rituale, die wir uns alle angewöhnt hatten, aber wehe, man vergaß, sich zu küssen oder das Mikro vor dem ersten Ton zu berühren! –, und der Schlagzeuger zählte hinter mir den Takt an.
Wir begannen mit »Solo für ein Solo«, eine mittelschnelle Nummer, die ich gemeinsam mit Minka geschrieben hatte, einLied über das Alleinsein, fast schon ein Chanson, aber nicht zu balladesk und auch nicht zu tragisch, sondern mit einer optimistischen, eher simplen Melodie ausgestattet, die überhaupt kein Solo enthielt – wir machten halt Schlagermusik,
Minka
machte Schlagermusik. Wie nicht anders zu erwarten war, hörte ich über die Monitore vor allem Bass und Schlagzeug. Minkas ohnehin nicht sehr starke Stimme hallte im Hintergrund, und meine Gitarre klang merkwürdig verzerrt. Unsere Besetzung war ungewöhnlich für die Art von Musik, die wir machten, und bei den Aufnahmen waren Blechbläser, ein Pianist – diesen Part hatte ich hier abwechselnd zu übernehmen –, zwei Flötisten und sogar Geiger zugegen gewesen, aber so viele Leute brachte man unmöglich auf den eher kleinen Bühnen unter, die wir bespielten – außerdem hätte es sich nicht gerechnet, all diese Musiker zu bezahlen. Deshalb war mein Instrument dasjenige, das viele andere zu ersetzen hatte.
Ich versuchte, mich nicht allzu sehr auf die verdrehten Monitorboxen, sondern auf mein eigenes Spiel zu konzentrieren; es ist ohnehin sehr schwer, in einer Gruppe zu musizieren, vor allem in einer Gruppe, die man währenddessen nicht sieht, mit der man sich nicht mimisch abstimmen kann, wozu ich allerdings sowieso nur begrenzt in der Lage war. Aber wir waren Profis und spielten seit fast einem Jahr zusammen (abgesehen vom Schlagzeuger, der diesen Posten erst vor vier Wochen übernommen hatte, weil sich Hannes, unser Stammschießbuder, besoffen die Hand in einer Hoteltür eingeklemmt hatte), Minkas Platten verkauften sich recht gut in diesem Marktsegment, das von den Feuilletons und Bestenlisten ignoriert wurde, jedenfalls den Bestenlisten, die später in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Dies war der zwanzigste oder dreißigste Auftritt innerhalb von zweieinhalb Monaten, knapp zwanzig weitere lägen noch vor uns, in so großartigen Städten wie Reutlingen, Göttingen,Bielefeld, Flensburg und so weiter. Und, natürlich, Marburg, wo wir übermorgen, am 11. November, auftreten würden, zu meiner großen Freude, denn dort würde ich Karen treffen, die an der Uni als Dozentin tätig war. Als
unverheiratete
Dozentin, denn der dusslige Jochen hatte nach zwei Jahren Fernbeziehung einen Rückzieher gemacht und eine Fleischereifachverkäuferin aus Ingolstadt geehelicht.
Am Ende des Sets, nach siebzig Minuten und vor den beiden geplanten Zugaben, hörten wir zwar den zu erwartenden, begeisterten Applaus, aber da war noch eine seltsame Unruhe, ein Getuschel. Ich blinzelte und versuchte, im Publikum etwas zu erkennen, doch im Gegenlicht konnte ich gerade einmal schemenhaft die erste Reihe ausmachen. Ich wartete ab, bis Minka von der Bühne verschwunden war, dann lehnte ich die Gitarre in die Halterung und folgte ihr.
Im Raum hinter der Bühne war es proppenvoll, der kleine Fernseher war lautgedreht. Etwa zwanzig Menschen saßen auf dem Fußboden, dem Tisch und dem Sofa, Minka protestierte, aber irgendwer zischte etwas, den Befehl, Ruhe zu geben. Ihr Mund und ihre dunklen Augen wurden schmal, aber sie fügte sich.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was im Fernsehen gezeigt wurde. Menschenmassen vor dem Brandenburger Tor, auf der Absperrung, die den Pariser Platz umgab, und dann Kolonnen von 601ern, die
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