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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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erklärte, dass es möglicherweise weitere Fortschritte geben würde, aber keine Chance darauf bestand, die zerschnittenen Nervenstränge operativ wieder instand zu setzen.
    Ich blieb noch einige Wochen zu Hause, indem ich vortäuschte, große Angst vor dem Rausgehen zu haben, was mir meine Mutter ohne Nachfrage abnahm, aber ich schämte mich für die Notlüge, mit der ich verhindern wollte, kurzfristig ins Walter-Gropius-Gymnasium zurückkehren zu müssen. Sie war erschüttert wegen der Vorfälle. Wenn wir zusammen waren, suchte sie meine Nähe, griff nach meiner Hand, um mich minutenlang wortlos anzuschauen, streichelte mir über die Haare und küsste mir behutsam auf die Ohren. »Mein armer Falki«, sagte sie dann und ließ meine Hände los. »Halb so wild«, antwortete ich tapfer und versuchte mich an einem Lächeln.
    Aber das konnte ich nicht mehr.
    »Diese Stadt ist schlimm«, sagte Mama. »Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen.«
    »Das ist doch Unsinn«, widersprach ich, obwohl es stimmte, aber ich durfte nicht zulassen, dass sie sich noch schuldiger fühlte. »Gewalt und Kriminalität gibt es auch in der DDR, wir haben nur weniger davon erfahren.«
    Sie nickte langsam und betrachtete mein Gesicht.
    »Was haben sie nur mit dir gemacht?«
    Die richtige Frage wäre gewesen: Was haben sie nur
aus
dir gemacht? Die beschädigten Gesichtsäste des
Nervus facialis
waren jene, die für die mimischen Fähigkeiten zuständig waren, weshalb ich – wenigstens vorläufig – nur noch zu eingeschränkter Mimik in der Lage war. Meine Gesichtsmuskulatur reagierte kaum, vor allem aber hatte sich mein Gesicht verändert, weil einige Muskeln andere Ruhepositionen eingenommen hatten oder nicht mehr anspannen konnten. Die Narben verschwanden nach und nach, bis auf jene, die von der Verletzung meiner rechten Wange stammte, die Henning bis in den Mundraum durchschnitten hatte. Dort blieb ein leicht erhabener weißer Streifen, der sich vom Jochbein bis fast zum Kinn zog. Wenn ich später in den Urlaub fuhr und die unangenehmen Phasen der Rötung überwunden hatte, um gegen Ende der zweiten Woche in der Sonne den leichten Bronzeton anzunehmen, bei dem es bleiben würde, trat die Narbe hervor wie der Schmiss eines Burschenschaftlers nach der Mensur.
    In den Monaten nach der Tat betrachtete ich mich so oft im Spiegel, bis mich der Anblick irgendwann nicht mehr überraschte. Der Falk Lutter, den alle kannten, existierte nicht mehr. Meine Gesichtszüge wirkten entspannter, aber auch – trotz des vielen Fetts, das ich loszuwerden beschlossen hatte – irgendwie strenger, kantiger, kühner, wie ich fand, und sympathischer als zuvor. Meine Mutter stimmte zu, sagte sogar irgendwann zu mir: »Erstaunlich, aber diese Sache hatte etwas Gutes. Du bist hübscher geworden.«
    Hübscher, aber verändert. Das drei Jahre alte Bild in meinem behelfsmäßigen Personalausweis zeigte eine andere Person, und die, die es hätte zeigen sollen, konnte nur noch mit den Augen lächeln und die Mundwinkel minimal hochziehen, was anfangs häufig sehr ironisch, fast arrogant wirkte, doch ich trainierte intensiv. Außerdem hatte ich einen Falk-Lutter-Diätplan ausgearbeitet, dessen Ziel es war, den eins fünfundachtzig großen Achtzehnjährigen aus dem präadipösen Gewichtsbereich in die Norm zu bringen, nicht zuletzt, weil ich nie wieder auf die Option verzichten wollte, davonlaufen zu können.
     
    Weil ich bereits genug Punkte gesammelt hatte, um das Abitur mit einem passablen Schnitt hinter mich zu bringen, stimmte die Schulbehörde zu, mich die Prüfungen während der Sommerferien nachholen zu lassen, so dass ich das Walter-Gropius-Gymnasium nur noch einmal aufsuchen musste, und zwar in einer Zeit, in der alle Schüler im Urlaub waren oder sich auf die Uni vorbereiteten. Für das angefangene Abschlusssemester bekam ich die um jeweils zwei Punkte herabgesetzten Noten des vorigen Semesters, was ich durch Eins-Plus-Prüfungsklausuren in Musik und Deutsch sowie zwei gute Zweien in den anderen Prüfungsfächern ausglich. Ich ging mit einer Zweikommaeins ab, und es blieb mir erspart, die Arschlöcher wiederzusehen, die Falk Lutter verstümmelt hatten, oder die feigen Nieten, die auch nach dem Anschlag, der sich einfach herumgesprochen haben musste, immer noch die Schnauze hielten. Ich würde sie nicht vermissen, aber ich würde noch sehr lange an sie denken, dessen war ich mir sicher.
     
    Ende August 1984 war ich bei sechsundsiebzig Kilo angelangt, saß in

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