Sommerhit: Roman (German Edition)
– wozu auch? Alles, was es über diese Veranstaltung zu sagen gäbe, war längst über die vorigen gesagt und würde bei den nächsten wiederholt werden, es gab keine möglichen Offenbarungen, die irgendwer von uns – vor allem natürlich die hübsche Sängerin – im Rahmen eines Interviews von sich geben würde. Für mich hingegen war jeder Auftritt einmalig, und ich fieberte jedem weiteren entgegen, auch wenn ich nur einer der Musiker und nie der Star des Abends war. Ich sah zu meiner Gitarre, die neben der Tür stand, erwog kurz, doch noch jemanden ins Hotel zu schicken, um die andere zu holen, aber genau
dann
würde mir wahrscheinlich wieder eine Saite reißen. Ich lächelte gedanklich – dieser idiotische Aberglauben, der die Bereiche hinter den Bühnen beherrschte, ließ sich empirisch in keiner Weise belegen.
Im Fernsehen, das Archivbilder vom vergangenen Montag zeigte, zogen Menschenmassen mit Fahnen, Transparenten und Fackeln durch die dunkelgelb beleuchteten Straßen von Ostberlin, und durch den fehlenden Ton hatte diese Prozession etwas Gespenstisches, etwas von Anschleichen. Ich war in Sorge deswegen, aber auch aufgeregt, schon seit Wochen.
Vor drei Jahren, im Frühjahr 1986, hatten wir endlich ein Lebenszeichen von Sonja erhalten, einen auf muffigem, hellgrauem Papier geschriebenen Brief, dem ein Foto beigelegt war und der uns vier Wochen nach dem Verfassen über große Umwege erreichte.
Es ging ihr gut, und sie sah wunderschön aus. Meine Schwester nannte in diesem Brief keine Namen, nicht mal von Orten, aber sie erzählte in einem knappen, merkwürdig emotionslosen Ton davon, dass sie in einem FDGB-Heim an der Ostseeküste arbeitete, dass sie alleine lebte, aber ein Kind hätte – ich war Onkel! –, dass es ihr gutginge, ihr gutgingeund abermals gutginge, und kein Wort davon, dass sie uns vermisste oder ob sie von Papa gehört hatte oder Ähnliches.
Während Mama, die jetzt Oma war, vor allem weinte, wobei nicht zu erkennen war, welche Anteile Glück wegen der Nachrichten und welche Trauer ausmachten, schnupperte ich an dem Papier und am Umschlag und fühlte mich um Jahre zurückversetzt. Ich hoffte, etwas wahrzunehmen, das mich an meine Schwester erinnerte, aber abseits des typischen Eigengeruchs waren Umschlag und Briefpapier neutral. Ich versuchte, mich an Sonjas Gerüche zu erinnern, aber das gelang mir nicht, vom Apfelshampoo, das sie vermutlich seit Jahren nicht mehr benutzte, abgesehen. Ich war froh darüber, dass sie lebte und sich offenbar zurechtfand. Aber ich hätte gerne ein paar persönliche Worte gelesen, oder etwas über meinen Vater.
»Fünf Minuten«, sagte der schmächtige Partner des Veranstalters. Der Schlagzeuger zog seine Schuhe an, Minka prüfte abermals ihr Make-up, die Helfer verschwanden, die Presseleute gingen ihnen hinterher, einer schnappte sich noch seinen Koffer mit der Fotoausrüstung. Marko, der Bassist, kam herein, eine Flasche Bier in der Hand, grinste breit – er roch nach Sex und noch etwas anderem, einer feinen Note, die sich bei allen Gelegenheitskoksern in den Schweiß mischte. Ich holte meine Gitarre aus dem Koffer, legte sie mir auf den Schoß und stimmte nach. Das war unüblich, dass die Musiker ihre Instrumente mit auf die Bühne brachten, aber hier war alles eng und schlecht geplant, und die Aufbauhelfer, die wir Roadies nennen mussten, waren versoffene, desinteressierte Typen, die sich für Rocker hielten und unsere Art von Musik verachteten. Wahrscheinlich hatten sie die Monitore auf der Bühne noch nach dem Soundcheck am Nachmittag so eingestellt, wie sie das für Konzerte von Punkbands taten, und ich würde wieder bis zum zweiten oder dritten Stück brauchen, um sie so nachzujustieren,dass ich auch Minkas Gesang und nicht nur das drückende Gepolter vom Schlagzeug hörte. Wir stellten uns in die Tür, die zum vollgestopften Technikraum führte, von dem aus seitlich eine weitere Tür den Weg zur Bühne freigab. Vorne der Schlagzeuger, dann der Bassist, danach ich und hinter mir Minka. Wir umarmten uns, küssten uns auf die Wangen oder deuteten es wenigstens an, das tat man vor Auftritten, Minka machte ein paar Schritte zurück und prüfte sich abermals im Spiegel, dann war eine kurze Ansage zu hören und die Form von Applaus, die ältere Leute fabrizieren, eher zurückhaltend, vom Wunsch beherrscht, alsbald einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Der Schlagzeuger ging los, wir hielten zwei, drei Meter Abstand voneinander, Minka wartete
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