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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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wieder ein Pressemensch und gelegentlich auch paar Fans gesellten – bei Minka in der Regel Herren abseits der vierzig, die vor Aufregung keinen Schluck herunterbekamen, ständig davon erzählten, welches ihr Lieblingslied wäre, und die auf keine Frage zu einer vernünftigen Antwort fähig waren, selbst wenn es um simple Dinge wie die Größe der Familie, die Farbe des Autos oder den Beruf ging.
    Heute aber musste das ohne mich stattfinden. Ich zwängte mich mit meinem Gitarrenkoffer in ein Taxi, fuhr ins Hotel, wo ich zum x-ten Mal und auch im neunten Jahr noch darauf hereinfiel, dass im Westen anders angestanden wurde als im Osten. An der Rezeption wartete eine große Gruppe darauf einzuchecken, zu so später Stunde, sie bildete einen großen Halbkreis um den Tresen und die einzige Kraft, die dort zugange war. Eine weitere Frau wuselte hinter ihr herum, verschwandaber immer wieder in einem Büro, um nur kurz zurückzukehren.
    Beinahe instinktiv suchte ich nach der Person, die möglicherweise das Ende der nichtexistenten Schlange bildete. In der DDR war das immer ganz automatisch vonstattengegangen, und selbst wenn es mehrere Schalter, Kassen usw. gab, bildete sich meistens nur
eine
Schlange, aus der dann der Nächste hervortrat, wenn ein Schalter frei wurde. Im Westen gruppierte man sich einfach irgendwie und drängte dann voran, wenn es sich ergab. Man drängelte sich auch gerne vor, den Protest der anderen ignorierend.
    Schließlich wurde mir mein Fehler bewusst. Ich ging an der Gruppe vorbei, zur Seite der Rezeption, und rief einfach »Zimmer 314, bitte«, als die zweite Frau wieder aus ihrem Büro kam. Sie zog den Schlüssel mit dem mächtigen Holzklöppel daran aus einem Fach und warf ihn vor mir auf die Tresenplatte.
    Beide Arten hatten was für sich.
    Als ich schon am Fahrstuhl wartete, rief mich die Frau zu sich, und ich fürchtete schon unsinnigerweise, sie würde mich für meine Vordrängelei rügen, aber es ging nur um einen Stapel Zettel mit Nachrichten für mich. Die meisten waren von György, aber zwei stammten von meiner Mutter. Erstaunlich, denn ich teilte ihr schon lange nicht mehr mit, wo ich mich befand, wenn ich auf Tour oder für Produktionen unterwegs war.
    Ich schmiss meine Jacke und den Gitarrenkoffer aufs Bett, schnippte mit der einen Hand den Fernseher an, über den ähnliche Bilder liefen wie diejenigen, die ich backstage schon gesehen hatte, und wählte mit der anderen Mamas Telefonnummer. Obwohl es schon auf ein Uhr morgens zuging, nahm sie fast sofort ab, aber während der ersten anderthalb Minuten war kein einziges Wort zu verstehen. Sie schluchzte, seufzte, schnaufte,kämpfte mit Tränen, ihrem pochenden Atem, irgendetwas anderem, das sie gleichzeitig tat, und nachdem ich vier Mal »Mama, beruhig dich doch«, gesagt hatte, brachte sie endlich, fast schreiend, einen zusammenhängenden Satz heraus: »Falki, Klaus-Peter ist hier, Papa ist hier.«

Familienzusammenführung (1989)
     
    Am 10. November 1989 spielten wir in Kassel. Minka schlug tatsächlich vor, am Anfang des Programms die Nationalhymne zu singen, begleitet von mir am Klavier. Davon abgesehen, dass die Musik für Bläser oder Streicher, aber kaum für einen – begleitenden – Flügel geeignet war (jedenfalls nicht ohne ein entsprechendes Arrangement, das uns so kurzfristig nicht zur Verfügung stand), hielt nicht nur ich das für eine Schnapsidee. Das Deutschlandlied lief erstens ohnehin pausenlos im Fernsehen während dieser Tage, und zweitens war das einfach unpassend. Niemand erwartete von uns dieses Statement, zuletzt wir selbst. Wir waren nicht in Amerika, wo man vor jedem noch so belanglosen Sportevent, aber interessanterweise
nicht
vor kulturellen Veranstaltungen vom »Land of the free, home of the brave« sang – ganz egal, ob gerade ein Bundesstaat hinzugekommen war oder seine Unabhängigkeit erklärt hatte –, sondern in Hessen, Bundesrepublik Deutschland, an einem kalten Novemberabend Ende der Achtzigerjahre. Natürlich fand eine revolutionäre Veränderung statt, wie alle hofften oder glaubten, das zu spüren, aber wir würden uns keinen Anteil daran erkaufen können, indem wir vor achthundert Kasselanern kurz vor der Rente auf patriotisch machten. Minka ließ sich schließlich überzeugen, jedenfalls scheinbar, und dann tat sie es trotzdem, ohne Begleitung, a cappella. Im Anzählen des Drummers drehte sie sich kurz zu ihm um und hob herrisch die Hand. Er stoppte, ich hielt in der Bewegung inne, das

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