Sommerhit: Roman (German Edition)
Velvet Underground aufgenommen hatte. Allerdings musste ich Minka auch zugestehen, dass sie über eine mehr als passable Stimme und eine ungeheure Bühnenpräsenz verfügte. Meine Erfahrungen diesbezüglich waren bescheiden und durch die Bank passiv, aber selbst ich erkannte, dass sie jemand war, der unbedingt auf eine Bühne gehörte – und dort früher oder später Erfolg haben würde. Als sie nach dem zweiten Teil und vor einer möglichen, aber nicht sehr wahrscheinlichen Zugabe neben uns Platz nahm und beiläufig »Wie findet ihr es?« fragte, teilte ich ihr in meiner grenzenlosen Naivität einfach mit, was ich glaubte, herausgefunden zu haben.
Sie starrte mich an, als wäre ich ein Beutetier und sie ein Raubvogel. Mike, der neben mir saß, legte wie zum Schutz eine Hand auf meine Schulter.
»Du spielst Gitarre, richtig?«, fragte die Musikerin, ohne auf das einzugehen, was ich ihr in zwei langen, teilweise hervorgestotterten Sätzen soeben mitgeteilt hatte.
Ich nickte vorsichtig.
»Kannst du Noten lesen?«
Ich nickte wieder, und mir wurde mulmig.
Ein paar Leute waren aufgestanden und zahlten direkt neben uns, einige saßen noch an ihren Tischen und sahen zu uns herüber. Minka bückte sich und kramte in einer beutelartigen Ledertasche, die an ihrem Barhocker hing. Dann reichte sie mir zwei zerknitterte, fotokopierte Notenblätter.
»Komm, wir spielen die Zugabe gemeinsam. Du begleitest.« Sie sah kurz zu den Tischen. »Hier kommt es sowieso nicht drauf an, und Kohle kriege ich für die Nummer wahrscheinlich auch nicht.«
Ich begann zu zittern und wurde fast ohnmächtig bei dem Gedanken, sah zu Mike, der mich seltsam anlächelte und dabeinickte, dann zu Minka und schließlich auf die Notenblätter.
»Auf deiner Gitarre?«
»Du hast ja keine bei«, sagte sie, wobei sie mich mit einem ironischen Lächeln um die Lippen ansah. »Oder traust du dich nicht, du großartiger Musikkritiker?«
Ich traute mich. Es war ein deutschsprachig vorgetragenes Stück mit nicht sehr komplizierter Melodie, deren Begleitakkorde ich während des Spiels zu meiner eigenen Überraschung variierte, nach meinem Gefühl verbesserte. Sonst nahm ich nichts wahr, nur Minka, mich selbst und die Gitarre, niemanden im Publikum, auch Mike nicht oder das olfaktorische Chaos in diesem speckigen Laden. Minka sagte nach dem Auftritt nichts zu mir, sah mich nur auf diese distanziertinteressierte Art an, der ich später häufig ausgesetzt war, und dann verschwand sie. Vier Monate später rief Mike bei mir an und erklärte, dass Minka einen Studiotermin für Demoaufnahmen in Berlin hätte und darauf bestand, dass ich daran teilnahm.
Es gab kein Telefon im Gebäude, das Büro war verschlossen. Außerdem hatte ich in der Aufregung völlig vergessen, dass im Saal noch einige hundert Leute saßen, die auf unsere Zugaben warteten, inzwischen seit fünf Minuten –
zwei
waren bei diesem Publikum eigentlich schon zu viel. Als ich in den Backstageraum zurückkam, brüllte die Sängerin mit sich überschlagender Stimme: »Bist du eigentlich vollkommen bescheuert?« Dann stürmte sie voran auf die Bühne, bremste sich erst im letzten Moment, zwang sich das Lächeln ins Gesicht und nickte in den schalen Applaus, der jetzt noch ertönte. Die meisten waren offenbar bereits dabei, den dunklen Saal zu verlassen. Noch während der ersten Zugabe gab es viel Unruhe, wir spielten insgesamt fünf Stücke und mischten dabeidie Encore-Sets, Marko, der Bassist, rückte während des eigentlich viertletzten Liedes an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, dass nach dem nächsten Schluss wäre. Nach dem Hit, der Single, die Minka vor drei Jahren bekannt gemacht hatte, ein Song, der sich redlich verkauft hatte – »Lügen sind nie für immer«. Ich mochte den Text des Liedes nicht besonders, obwohl er über eine schöne Botschaft verfügte, aber ich hatte an der Musik mitgeschrieben. Der Schlussapplaus war mager, und weil das Saallicht anging, bevor ich die Bühne verlassen hatte, sah ich erst jetzt, dass bestenfalls noch die Hälfte des Publikums anwesend war. Das hatte ich noch nie erlebt.
Ich verschwand, ohne mich zu verabschieden, obwohl das alle ungeschriebenen Gesetze brach. Selbst Marko und der Ersatzschlagzeuger, die die Musik, die wir machten, eigentlich nicht ausstehen konnten, hielten sich daran, dass »die Band« nach einem Auftritt zusammen aß und trank, wozu sich dann noch die lokalen Verantwortlichen, manchmal ein Promoter der Plattenfirma, hin und
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