Sommerhit: Roman (German Edition)
in einer langen Schlange warteten, wehende schwarz-rot-goldene Fahnen mit und ohne Hammer und Zirkel, und über all dem dieses gelbliche, fade Licht, mit dem im Osten, wie ich meine ehemalige Heimat inzwischen manchmal auch nannte, Straßen und Plätze beleuchtet wurden. Leute mit Sektflaschen in den Händen, Menschen, die etwas in Mikrophone brüllten – Menschen aus dem Osten, die etwas in Mikrophone aus dem Westen brüllten. Man lag sich in den Armen, tanzte, vor allem aber gab es viel Gedränge,und mein erster Gedanke war: So viele auf einem Haufen sind ein gutes Angriffsziel. Und erst mit dem nächsten Gedanken wurde mir vollständig klar, was dort, Hunderte Kilometer von mir entfernt, geschah.
Ich zerrte am Kragen des stellvertretenden Veranstalters, der vor mir auf dem Boden hockte. »Gibt es hier ein Telefon?«, zischte ich in sein Ohr. Er sah mich nur verständnislos an, wies mit einem Finger auf die Glotze und zuckte die Schultern. Hier wusste niemand, dass ich aus der DDR kam. Möglich, dass ich es Minka mal erzählt hatte, beim Glas Wein nach einer Studiosession oder während der kurzen Zeit, in der wir gelegentlich das Bett geteilt hatten, aber Minka interessierte sich so sehr für andere wie die Schwarze Witwe für ihren Begattungspartner. Sie hörte nur zu, um den Zeitpunkt abzuwarten, ab dem sie wieder von sich erzählen konnte. Sie war der egozentrischste Mensch, den ich kannte, aber sie hatte mir auch das Tor zur Profimusik geöffnet, wofür ich ihr endlos dankbar war, verbunden allerdings mit dem sicheren Gefühl, dass die aktive Dankbarkeit – als Teil ihrer Band, als Mitkomponist und -texter – bald enden würde. Meine Tage mit ihr waren gezählt, vor allem, weil ich längst an eigenen Projekten arbeitete, und nicht nur wegen ihrer Egozentrik, die sie allerdings mit vielen Leuten aus unserem Fach gemein hatte. Es war von Vorteil, in dieser Branche sehr ichbezogen zu sein, und das damit verbundene Sendungsbewusstsein gehörte dazu, wenn man auf einer Bühne stehen und für Tausende Menschen singen wollte.
An jenem Abend vor über fünf Jahren hatte mich Mike in einen winzigen Laden in der Wiener Straße geschleppt, in eine Gegend, die damals schon für alle anderen nach Kebab und für mich nach dem feinen, leicht öligen Metallstaub roch, der von der U-Bahn herüberwehte, die hier überirdisch fuhr. Die unfassbarmiefige Kreuzberger Kneipe fasste vielleicht dreißig Leute und hatte keinen Backstage-Bereich, weshalb die äußerst blasse junge Frau, die eher noch ein Mädchen war, vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich, mit ihrer Les Paul (aus der zweiten Ära) neben sich am Tresen saß und Leitungswasser aus einem schmutzigen Glas trank. Als sie Mike sah, nickte sie erfreut, die beiden umarmten einander, dann wurde ich vorgestellt. Ich spürte, wie meine Gesichtshaut errötete, als mein Gitarrenlehrer davon sprach, dass ich sein talentiertester Schüler sei. Tatsächlich war ich derzeit einer von zweien. Minka lächelte und nahm das, wie ich meinte, kaum zur Kenntnis, sah mir nur für einen Moment in die Augen, wobei ich feststellte, dass ihre so dunkel waren, dass man keine Färbung erkennen konnte. Es war kurz nach acht, der Auftritt sollte um neun beginnen, aber außer uns saßen nur vier Leute an den ramponierten Tischen und erweckten nicht den Eindruck, wegen der Musik gekommen zu sein.
Als der Gig auf der vielleicht anderthalb Quadratmeter großen Bühne begann, waren es elf, später, gegen Mitte des Auftritts, knapp zwanzig, wahrscheinlich überwiegend Stammgäste. Ich beobachtete das Publikum und die Musikerin wie immer äußerst aufmerksam, sog die Eindrücke auf. Zwei Dinge stellte ich relativ zügig fest: Minka war eine erbärmliche Gitarrenspielerin, der es kaum gelang, sich auf beides – Gesang
und
Gitarre – zu konzentrieren. Immer wieder vergriff sie sich, stockte einmal mitten im Song, fing sich aber schnell wieder. Zum Zweiten funktionierte ihr Versuch, die Art von seichtem, aber durchaus kunstvollem Folk-Pop, den sie darbot, in englischer Sprache zu singen, überhaupt nicht. Bis zur Pause trug sie acht Stücke vor, davon zwei auf Deutsch, und auch sie musste, wie ich meinte, von der Bühne aus wahrnehmen, dass ihre muttersprachlichen Songs wesentlich besser ankamen als die in gestelztem und viel zu falschem Englisch, das ein bisschen nach Nico klang, aber längst nichtden morbiden Charme hatte, der die Stücke kennzeichnete, die das Ex-Model in den Sechzigern mit The
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