Sommerkind

besorgt war um Sean. Er sagte, Pfarrer Macy hätte sich zurückgezogen und wäre sehr traurig gewesen. Er sagte, seinem Gefühl nach hat Sean in der Gegend herumgevö… Oh, Verzeihung. Eine Dame ist zugegen. Er sagte, seinem Gefühl nach könnte Sean sein Zölibat gebrochen haben.”
    Daria war erbost. Wie weit hatten sich diese Gerüchte wohl schon verbreitet? Der Mann war erst seit wenigen Tagen tot, und schon wurde sein Andenken in den Schmutz gezogen. “Das sind doch nichts als Spekulationen”, blaffte sie. “Und es macht mich wirklich wütend, mir so einen Blödsinn anhören zu müssen. Warum muss nur jeder immer im Dreck wühlen? Sean Macy war ein guter Mann und ein guter Pfarrer obendrein. Er hätte sich niemals …” Auf einmal kam ihr Shellys Prophezeiung, der Priester würde sich das Leben nehmen, wieder in den Sinn, und in ihrer Brust machte sich ein beklemmendes Angstgefühl breit.
    “Er hätte sich niemals was?” George drängte sie, den Satz zu beenden.
    “Ich würde mir einfach nur wünschen, du würdest diese Dinge nicht herumposaunen, bevor du sie nicht untermauern kannst.”
    “Dann hör halt nicht hin, Frau Neunmalklug.”
    George fuhr mit seinen Ausführungen über Sean Macy und darüber, was die Polizisten aufgedeckt hatten und was nicht, fort. Doch als Daria ihre Arbeit an den Küchenschränken fortsetzte, war sie mit den Gedanken bei Shelly. Shelly hatte schon immer die ungewöhnliche Begabung gehabt, Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnahmen, aber bislang hatte sie nie übersinnliche Fähigkeiten gezeigt. Wenn Sean Macy sich tatsächlich das Leben genommen hatte, wie hatte sie es voraussagen können?
    An diesem Abend nahm Daria mit Chloe und Shelly am Picknicktisch auf der Veranda ein schweigsames Mahl ein – kalte gegrillte Hähnchenbrust mit Kartoffelsalat. Keine von ihnen sprach viel. Shelly wie auch Chloe waren noch in tiefer Trauer, und obwohl sich Daria ihrer Taktlosigkeit bewusst war, musste sie das Thema ansprechen.
    “Es gibt Gerüchte, dass Pfarrer Macy sich das Leben genommen hat”, sagte sie nach einer Weile.
    Chloe sah von der Hähnchenbrust auf, die sie kaum angerührt hatte. “Ja, ich habe auch so ein Gerede gehört.” Ihre Stimme klang blechern.
    Daria warf einen Blick auf Shelly, die stur auf ihren Teller starrte.
    “Shelly?”, drängte Daria sie.
    Shelly sah auf. “Was?”
    “Du hast doch befürchtet, dass so was passieren könnte. Dass Pfarrer Macy Selbstmord begehen könnte.”
    Chloe war überrascht. “Tatsächlich? Wie bist du darauf gekommen?”
    Shelly zuckte die Schultern und stocherte mit der Gabel im Kartoffelsalat herum.
    Daria sah zu Chloe hinüber. “Vor etwa einer Woche war Shelly sehr besorgt und erzählte mir, sie hätte Angst, Pfarrer Macy wolle sich umbringen”, erklärte sie. “Ich dachte, sie wäre … Ich dachte, sie hätte irgendeine seiner Äußerungen falsch verstanden. Aber jetzt bin ich da nicht mehr so sicher.”
    Shelly brach in Tränen aus. Sie schob den Teller beiseite und presste die Serviette auf die Augen. “Ich wusste, dass er es tun würde”, sagte sie. “Ich hätte irgendwas machen müssen.”
    Daria lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. “Warum in aller Welt hast du vermutet, er könnte so etwas tun?”
    Shelly lehnte sich zurück, ihre Nase war gerötet vom Weinen. “Er hat gesagt, er wäre erschrocken über sich selbst. Er hat gesagt, er wäre ein … Sünder.”
    “Ein Sünder?”, wiederholte Daria. “Was hat er damit gemeint? Hat er gesagt, warum er sich für einen Sünder hält?”
    Shelly schüttelte den Kopf. “Er hat immer in Rätseln gesprochen. Ich wusste nie, was er eigentlich meinte.” Sie nahm die Gabel wieder in die Hand und zerquetschte die Kartoffeln auf ihrem Teller. “Er hat mich gefragt, ob ich es für einen Fehler halte, wenn sich jemand das Leben nimmt, und ich habe gesagt, dass ich es nicht richtig finde. Und
er
hat gesagt, dass Gott einen Selbstmord vergeben würde, wenn man ihn begeht, um einen anderen Menschen zu retten.”
    Daria und Chloe tauschten einen verwirrten Blick. “Wen hätte er denn retten wollen?”, fragte Daria. “Ich glaube, du hast ihn missverstanden.”
    Chloe schlüpfte von ihrem Platz, ging um den Tisch herum und setzte sich neben Shelly. Sie legte die Hand auf den Arm ihrer Schwester. Daria konnte in Chloes Augen Tränen schimmern sehen.
    “Ich denke, Daria hat recht, Schätzchen, und du hast Pfarrer Sean falsch verstanden. Deshalb finde