Sommerkind
dass sie keinerlei Hintergedanken hegte. Daria irrte sich. Vor ihm saß eine Frau, die erst vor Kurzem ihr Kind verloren hatte und allem Anschein nach in der Trauer um dieses Kind nicht von ihrem Mann aufgefangen wurde. Außerdem hatte sie gerade erst eine schwere Krankheit hinter sich gebracht. Er konnte nur vermuten, welche seelischen Schmerzen sie durchlitt. Darüber war sie verständlicherweise ein wenig übergeschnappt. Auch er war nach der Scheidung von Glorianne übergeschnappt, und das, obwohl seine Trennung nicht an den Verlust seines Kindes geknüpft gewesen war. Bei dem Gedanken, Zack zu verlieren, schnürte sich ihm die Kehle zu.
Er ging zum Sofa hinüber und setzte sich neben Grace, ganz dicht neben sie. “Ich habe noch eine Frage, auf die ich eine Antwort brauche”, sagte er.
Sie presste die Lippen aufeinander und nickte ergeben.
“Was für eine Krankheit hattest du?” Er musste es endlich wissen. Er war ihre Geheimnisse und Ausflüchte leid.
Sie schluckte schwer, und in ihrem Blick lag Panik. “Ich glaube, ich muss mich übergeben.” Sie stand auf, schwankte, und er erhob sich ebenfalls, um sie zu stützen. “Ich bin gleich zurück”, sagte sie noch, ehe sie zum Badezimmer wankte.
Es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, und er wollte gerade nach ihr sehen, als sie – einen nassen Waschlappen im Nacken – zurückkam. Er stand auf. “Geht es dir gut?”, fragte er.
Sie lachte trocken. “Oh ja, großartig.” Dann setzte sie sich wieder.
Er nahm ihre Hand in seine, ungeachtet dessen, ob sie es wollte oder nicht, ob es noch einen Ehemann gab oder nicht oder ob sie ihn angelogen hatte. Ihre Handfläche war klamm und kühl. Mit der anderen Hand presste sie den Waschlappen gegen die Stirn, dann ließ sie sie in den Schoß sinken.
“Kurz vor Pamelas Tod wurde ich am Herzen operiert”, erzählte sie und rückte ein Stück von ihm weg, damit sie ihn besser ansehen konnte. “Ich habe eine Krankheit namens Marfan-Syndrom. Sie ist erblich und kann auch das Herz angreifen. Pamela hatte die Krankheit auch. Man hat sie bei ihr diagnostiziert, obwohl sie keine eindeutigen Symptome hatte – bis auf den Krampfanfall im Flugzeug. Deshalb ist sie abgestürzt. Mein Mann hat sie immer zum Fliegen angestachelt.” Auf einmal lag ein gefährliches Funkeln in ihren Augen. “Wäre er nicht gewesen, hätte sie sich ein normales Hobby gesucht, wie Softball oder … irgendein Instrument. Dann würde sie noch leben.” Sie kniff die Augen zusammen, und wieder kamen ihr die Tränen. “Es tut mir so leid, Rory”, schluchzte sie. “Als ich dich am ersten Tag am Strand angelogen habe, wusste ich doch noch nicht, dass wir uns wiedersehen, geschweige denn anfreunden würden. Und als die Lüge erst einmal draußen war …”
“Shhh.” Er nahm sie in den Arm und zog sie an sich heran. Sie wehrte sich nicht. Gefangen in ihren Lügen und ihrer Trauer, weinte sie hemmungslos an seiner Brust. Er konnte nicht absehen, welche Auswirkungen all diese Lügen auf ihre Beziehung haben würden. Er wusste nur, dass sie in diesem Moment einen Freund brauchte. Und er war mehr als gewillt, in diese Rolle zu schlüpfen.
34. KAPITEL
A ls sich der Himmel kupferrot über den Ozean erstreckte, trafen Daria und Chloe von der Arbeit zu Hause ein. Kein Wölkchen trübte das Schauspiel, und nichts deutete auf das drohende Unwetter hin.
“Hast du von dem Hurrikan gehört, der auf uns zusteuert?”, fragte Daria ihre Schwester auf dem Weg zur Veranda.
“Nein. Das hat ja gerade noch gefehlt.”
“Er soll sogar ziemlich heftig sein.” Im Wohnzimmer schaltete sie sogleich den Wetterbericht an. “Er ist noch ziemlich weit weg”, sagte Daria. “Vielleicht schwächt er bis zur Küste ja noch ab. Oder er zieht weiter aufs Meer hinaus. In diesem Stadium ist noch alles möglich.”
“Sag Shelly lieber noch nichts davon.” Chloe sah auf ihre Uhr. “Ich bin nur hergekommen, um mir was anderes anzuziehen”, meinte sie dann. “Pfarrer Wayne braucht bei einem Termin heute Abend meine Hilfe.”
Chloe würde eine Zeit lang häufiger in der Kirche arbeiten und versuchen, das Loch zu stopfen, das Pfarrer Macy hinterlassen hatte. Als sie nach oben ging, um sich umzuziehen, hockte sich Daria vor den Fernseher.
Während sie und Andy tagsüber eine Eigentumswohnung in Duck vertäfelt hatten, war sie mit den Gedanken die ganze Zeit bei dem Gespräch zwischen Rory und Grace gewesen. Wie es wohl gelaufen war? Sobald Chloe weg wäre, würde
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