Sommerkind
Ihr Gesicht sah hübsch aus in dem roséfarbenen Licht. Sie saß mit den anderen Rednern in der ersten Reihe, Shelly und Daria einige Reihen dahinter. Chloe hatte bereits gesprochen, ohne zu weinen. Sie hatte von der wichtigen Rolle erzählt, die Pfarrer Macy für jedes einzelne Mitglied der Cato-Familie gespielt hatte, seit er vor vierundzwanzig Jahren nach St. Esther's gekommen war. Dass Chloe all dies sagen konnte, ohne auch nur eine Träne zu vergießen, war erstaunlich, überraschte Daria jedoch nicht. Seit dem Unfalltag in den Dünen, als sie bitterlich geweint hatte, war Chloe wie betäubt. In ihrem Gesicht spiegelten sich keine Emotionen, und Daria vermutete, dass sie unter Schock stand.
Nun stand der gute alte Pfarrer Wayne vorn – grünes Licht fiel über sein Gesicht – und erzählte eine Anekdote über Pfarrer Macy, die offensichtlich lustig sein sollte. Einige der Trauergäste kicherten verhalten, doch Shelly konnte sich nur schwer auf die Worte des Priesters konzentrieren. Sie gedachte Pfarrer Sean auf ihre ganz eigene Weise. In den kälteren Monaten des Jahres war er stets voller Leben und Lachen gewesen. Er erzählte ihr Witze – anständige, natürlich –, und immer lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Und dann kam der Sommer, und das Lächeln verschwand. So ging es Jahr für Jahr. Shelly hatte mit der Zeit regelrecht darauf gewartet und dem Sommeranfang mit einer gewissen Furcht entgegengesehen. So glücklich sie das sonnige warme Wetter auch machte, so bekümmert war sie durch die Pein, die es über den Priester brachte. Sie wusste, dass einige Menschen unter Winterdepressionen litten. Das kam sogar häufig vor. Doch Pfarrer Sean hatte das gegenteilige Problem gehabt. Und sie gehörte zu den wenigen Menschen, die verstanden, warum.
Daria zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich. Shelly lehnte ihre Wange gegen die Schulter ihrer Schwester und streichelte ihre Hand. “Schon gut, Dar”, versuchte sie sie zu beruhigen. Aus irgendeinem Grund war Darias Schmerz für sie schlimmer als ihr eigener. “So ist es, wenn man liebt”, hatte Pfarrer Sean einmal gesagt. Am ärgsten war es gewesen, als Pete Daria verlassen hatte. Shelly hatte Pete nie besonders gemocht. Er war zu sehr mit sich beschäftigt, zu egoistisch, als dass er jemanden wie Daria verdient hätte, und er trug diese dämlichen Tätowierungen, für die Shelly sich immer schämte. Aber Daria liebte ihn, und deshalb musste Shelly einfach wütend auf ihn sein, als er die Beziehung beendete. Wie konnte er Daria das nur antun? Daria war am Boden zerstört gewesen, sodass sie sogar ihren Job bei der Rettung aufgegeben hatte. Es war, als hätte sie aufgehört zu leben – zumindest bis Rory aufgetaucht war.
Plötzlich knieten alle Anwesenden auf den gepolsterten Bänkchen nieder, und Shelly tat es ihnen gleich. Sie achtete nicht darauf, an welcher Stelle des Gottesdienstes sie waren, doch wie sie da so kniete, begann sie zu beten.
Sie betete, dass Daria und Rory irgendwie zusammenkämen.
Sie betete, dass sie tatsächlich schwanger war – auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie Daria diese Nachricht beibringen sollte.
Nach diesen Gebeten konzentrierte sie sich voll und ganz auf die wichtigste Fürbitte:
Lieber Gott, bitte vergib Pfarrer Sean.
Sie wiederholte diesen Satz wieder und wieder, voller Inbrunst, denn sie war die Einzige, die dieses Gebet beten konnte. Alle anderen dachten, Pfarrer Seans Tod sei ein schrecklicher Unfall gewesen.
Allein sie wusste es besser.
32. KAPITEL
N ach dem Gottesdienst traf Daria auf Rory. Er hatte in der Kirche weit hinten gesessen und wartete nun draußen auf sie. Er hegte gemischte Gefühle für den Priester, weshalb sich Daria über sein Kommen umso mehr freute. Er wusste, wie viel Pfarrer Macy ihrer Familie bedeutet hatte.
Schweigend legte Rory einen Arm um sie, den anderen um Shelly und führte sie von der Kirche zum Parkplatz. Aus irgendeinem Grund drohten die Wärme und das leichte Gewicht seines Arms Daria wieder die Tränen in die Augen zu treiben. Sie atmete tief durch den Mund ein, um die Kontrolle zu behalten.
Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihrem Drang, ihm von Grace zu erzählen, einen gehörigen Dämpfer verpasst. Dennoch wusste sie, dass sie mit ihm reden musste. Aber nun war Shelly bei ihnen; schon wieder nicht der richtige Zeitpunkt. Shelly jedoch schien das zu spüren.
“Ich möchte lieber zu Fuß nach Hause gehen”, meinte sie. Ihr
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