Sommerkind
vor allem die Angst. Sie fürchtete sich vor dem, was sie auf dem Steg erwarten würde. Früher war sie Notfällen mit Mut, Selbstvertrauen und einer gehörigen Portion Adrenalin begegnet. Das Adrenalin war noch immer da, doch den Mut und ihr Selbstvertrauen hatte sie am Unfallort jenes fatalen Flugzeugabsturzes zurückgelassen.
“Die Telefonleitung war tot”, rief Shelly Andy zu. “Ich konnte den Rettungsdienst nicht rufen.”
Daria löste ihr Mobiltelefon vom Hosenbund und drückte es Shelly in die Hand. “Geh ins Haus und ruf an.” Sie musste sich anstrengen, damit ihre Stimme durch den Sturm bis zu ihrer Schwester drang. “Sag ihnen, wir müssen zwei Personen unter einem Siebenmeterboot hervorholen.” Daria wusste, dass sie von Glück reden könnten, wenn überhaupt jemand den Anruf entgegennähme, und erst recht, wenn sie die Ausrüstung bekämen, die sie zur Bergung der Opfer vermutlich brauchen würden.
“Nein, bleib hier!”, schrie Andys Nachbar Shelly an. “Wir brauchen hier jede Hand, um das Boot anzuheben.”
Daria gab ihrer Schwester einen kleinen Schubs. “Geh, Shelly.” Dann wandte sie sich dem Nachbarn zu, dessen dunkles nasses Haar sein von Angst- und Sorgenfalten zerfurchtes Gesicht umrahmte.
“Wir können das Boot nicht anheben, ehe ich ihre Verletzungen abgeschätzt habe”, sagte sie. “Sonst machen wir vielleicht alles nur noch schlimmer.” Mit der Taschenlampe leuchtete sie aufs Wasser. Es stand niedriger als normal. “Kommt das Wasser oder geht es?”, fragte sie Andy. In den ersten Stunden eines Hurrikans konnte sich das Wasser nahezu vollständig aus der Bucht zurückziehen und dann mit einem wilden Getöse zurückkommen und alles überfluten.
“Es kommt”, antwortete er.
“Deshalb ist das Boot ja umgekippt”, erklärte sein Nachbar.
Die nahende Flut kann gut oder schlecht für uns sein, dachte Daria. Wenn das Wasser stieg, könnte es das Boot vom Steg heben und die Opfer befreien, aber es könnte auch ihre Arbeit erschweren.
Sie kniete sich hin und leuchtete mit der Lampe durch einen Spalt unter das Boot. Als der Lichtstrahl in die Augen des kleinen Jungen fiel, der in der Mitte des Bootes eingeklemmt war, heulte er laut auf und streckte sein Ärmchen zu ihr aus. Sie nahm seine kleine Hand. “Wo tut es dir weh?”
Die Antwort des Jungen war ein Weinen. Daria meinte, den Rahmen der niedrigen, winkligen Frontscheibe quer über seiner Brust liegen zu sehen. Wenn es so war, hatte sie ihm wahrscheinlich mehrere Rippen gebrochen. An einem Oberschenkel hatte er eine Wunde, aus der langsam Blut rann, das sich unter seinem Bein bereits zu einer kleinen Pfütze gesammelt hatte. Daria drückte seine Hand. “Ich bin gleich wieder da, mein Schatz. Ich sehe nur mal schnell nach deiner Mommy.”
Auf dem Bauch robbte sie zum Bootsheck. Sie kam nur schlecht an die Frau heran, schaffte es jedoch, einen Arm so weit unter das Boot zu bringen, dass sie am Hals ihren Puls fühlen konnte. Er war schwach und unregelmäßig, aber immerhin lebte sie. Wie die Frau unter dem Boot lag, konnte Daria allerdings nicht erkennen. Wenn ihre Beine eingequetscht waren und sie das Boot hochheben würden, könnte sie innerhalb weniger Sekunden sterben. Doch hatten sie eine Wahl? Wenn sie das Boot nicht hochheben würden, kämen Mutter und Sohn darunter um.
“Sie sind beide am Leben”, rief sie, als sie sich wieder auf die Knie setzte. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und wenn sie sprach, beugten sich die drei Männer tief zu ihr herunter, um sie hören zu können. “Ihr drei müsst das Boot jetzt weit genug anheben, damit ich sie rausziehen kann, okay?” Shelly kam auf sie zugerannt. “Was haben sie gesagt?”, fragte Daria.
“Sie meinten, es wäre zu windig. Sobald der Sturm abschwächt, schicken sie einen Rettungswagen.”
“Was soll das heißen, es ist zu windig?”, schrie Andys Nachbar aufgebracht. “Sie
müssen
jemanden schicken!”
Daria sah ihm fest in die Augen. “Verwenden Sie Ihre Energie und Wut jetzt lieber darauf, dieses Boot hochzuheben. Los, Shelly, hilf du auch mit.”
Schon oft hatte sie – sogar bei sich selbst – erlebt, wie Menschen in Krisensituationen übermenschliche Kräfte entwickelten, sodass es sie nicht überraschte, als die drei Männer und Shelly das Boot tatsächlich ein paar Zentimeter anhoben. Daria kroch darunter, packte den Jungen und zog ihn unter dem Boot hervor. “Könnt ihr es noch ein bisschen halten?”, fragte sie, während sie zu der
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