Sommerkind
er. Sie hatte damals immer einen Haufen Jungs um sich geschart, die Rory in seiner jugendlichen Sehnsucht allesamt beneidet hatte. Die drei Jahre ältere Chloe, die schon mit sechzehn das College besuchte, war einfach umwerfend schön: dunkle Augen und langes gewelltes Haar. Alle Mädchen aus der Familie hatten das gleiche dicke schwarze Haar. Ellen – die Cousine, wenn er sich recht erinnerte – war auch sehr hübsch, aber hinter ihrem niedlichen Gesicht verbarg sich ein fieses Temperament, vor dem er sich so manches Mal gefürchtet hatte. Auf einmal kam ihm ein Zwischenfall in den Sinn, an den er schon seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Er war etwa dreizehn gewesen und hatte mit Ellen und einer Gruppe Jugendlicher am Strand herumgelungert. Als er gerade einem attraktiven Mädchen nachsah, das durch das seichte Wasser stakste, meinte Ellen, die ganze Gruppe auf seine Erektion aufmerksam machen zu müssen. Er hatte sich blitzschnell auf den Bauch gerollt und Ellen für ihre große Klappe gehasst. Selbst jetzt zuckte er bei der Erinnerung an diesen Moment noch zusammen.
Dann war da noch Daria gewesen, seine kleine Kumpelfreundin. Das Mädchen, das schneller rennen, besser schwimmen und größere Fische fangen konnte als er. Obwohl er drei Jahre älter war, hatte er sie stets als seine Konkurrentin betrachtet. Zwar hatte er immer so getan, als ließe er sie gewinnen. Aber in seinem Innersten hatte er sie bewundert. Er fragte sich, was wohl aus den Cato-Mädchen geworden war.
Rory öffnete die Heckklappe und nahm zwei Koffer heraus. Er brachte sie auf die Veranda und hielt dann einen Moment inne, um aufs Meer hinauszublicken und den nach wie vor vertrauten Geruch des Strandes einzuatmen, den er so liebte. Es würde ein guter Sommer werden. Er war auf dem schönsten Fleckchen Erde, stand kurz davor, sich in eine geheimnisvolle Geschichte zu vertiefen, und er war mit seinem Sohn zusammen. Zack würde nicht nur gebräunt und mit sonnengeküsstem Haar, sondern auch mit einem neuen Gespür für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens aus dem Urlaub zurückkehren. Und – so hoffte Rory – mit der wieder erwachten Liebe zu seinem Vater. Man durfte ja wohl noch träumen, oder?
3. KAPITEL
I m Wäschekorb türmte sich ihre saubere Arbeitskleidung – mehrere Shorts und ein Dutzend T-Shirts –, und Daria kippte alles auf ihr Bett, um sich ans Zusammenlegen zu machen. Das Fenster stand weit offen, und eine warme Meeresbrise streichelte die blauweißen Vorhänge, sodass sie sich wie die Flügel einer müden Möwe in den Raum hineinreckten. An Sommertagen wie diesem hatte sie sich sonst immer beschwingt und sorglos gefühlt, doch anscheinend war sie zu derlei Empfindungen nicht mehr in der Lage.
Sie trug den Stapel gefalteter Wäsche durchs Zimmer und legte ihn auf die Kommode. Aus der geöffneten Schublade nahm sie das Foto, das sie unter ihren T-Shirts versteckt hielt. Sie ging näher ans Fenster, um es sich genauer anzusehen, so wie jedes Mal, wenn sie die Kommode öffnete. Das Foto zeigte Pete, wie er am Haus eines Freundes in Manteo an einem rudimentären Holzzaun lehnte – ein Bier in der Hand, den nachmittäglichen Anflug von Bartstoppeln im Gesicht und ihr, der Fotografin, ein strahlendes Lächeln schenkend. Sein dunkles Haar, das so fein und glatt war wie ihres dick und gewellt, fiel ihm in die Stirn. Der Anblick dieses Bildes quälte sie, und dennoch tat sie es sich immer wieder an. Sechs Jahre lang war er Teil ihrer Gegenwart und Zukunft gewesen. Nun war er nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit, und sich daran zu gewöhnen dauerte länger, als ihr lieb war.
Daria legte das Bild zurück, verteilte ihre T-Shirts darüber und ging wieder zum Wäschekorb, doch mit ihren Gedanken war sie noch immer bei dem Foto. In ihrem Kopf waren Pete und seine Gleichgültigkeit Shelly gegenüber untrennbar mit der Nacht des Flugzeugabsturzes verbunden, bei dem die Pilotin ums Leben gekommen war. Seit zwei Monaten drehten sich Darias Albträume nun schon um die letzten Minuten dieser jungen Frau. Sie konnte sich von der Erinnerung an ihren flehenden Blick einfach nicht befreien.
Am Morgen hatte sie vom Leiter des Freiwilligen Rettungsdienstes einen Anruf erhalten. Einen Anruf, den sie ebenso erwartet wie befürchtet hatte. Sie entließen sie aus ihrem Amt als Notfallseelsorgerin, sagte er, und sie zuckte zusammen, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Fünf Jahre lang arbeitete sie nun schon im Kriseninterventionsdienst.
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