Sommerkind
Bei traumatischen Ereignissen im gesamten Bezirk rief man sie, damit sie verzweifelten Rettungskräften helfen konnte, das Erlebte zu verarbeiten. Und nun war
sie
so eine verzweifelte Rettungskraft. Ihr Chef brachte es auf den Punkt, als sie ihn anflehte, es sich noch einmal zu überlegen: “Wenn du deinen eigenen Stress nicht bewältigen kannst, wie um alles in der Welt willst du dann anderen dabei helfen?”
Sie legte gerade das letzte Paar Shorts zusammen, als ihr Blick unwillkürlich nach draußen auf die andere Straßenseite wanderte, wo die dieswöchigen Urlauber gerade das Poll-Rory bezogen. Irgendetwas veranlasste sie, näher ans Fenster zu gehen, den aufgeblähten Vorhang zur Seite zu halten und die Neuankömmlinge genauer ins Visier zu nehmen. Ein Mann und ein Junge luden Gepäck aus einem roten Jeep aus. Trotz der Entfernung und obwohl sie ihn seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, erkannte sie in dem Mann sofort Rory Taylor. Als er noch Footballspieler bei den Rams gewesen war, hatte sich Daria jedes Spiel im Fernsehen angesehen, und nun war sie seit Jahren eine treue Zuschauerin von “True Life Stories”. Sie hatte jegliche Hoffnung aufgegeben, dass er ins Poll-Rory zurückkehren würde – vor allem nach dem Tod seiner Eltern. Vermutlich gab es in seinem Leben viel glamourösere Ferienorte, wo er seine freie Zeit verbringen konnte. Dennoch war er jetzt hier. Und der Junge war bestimmt sein Sohn. Sie hatte in der Zeitung von Rorys Scheidung gelesen.
Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich sofort an die Heuwagenfahrt, die sie einst mit einigen Nachbarskindern und ihrem Vater als Begleitperson unternommen hatten. Rory, der damals um die zwölf und voller schmutziger vorpubertärer Späße war, riss einen derben Witz nach dem anderen, doch Daria wagte in Anwesenheit ihres tiefreligiösen Vaters nicht, darüber zu lachen. Rory war sich ihrer misslichen Lage natürlich bewusst gewesen und hatte sie mit noch lauter erzählten Geschichten geneckt. Bei dieser Erinnerung musste sie lächeln. In Kindertagen waren sie und Rory die besten Freunde gewesen. Als sie zehn oder elf war, hatte sich ihre Freundschaft in Verliebtheit gewandelt. Zumindest von ihrer Seite. Rory hingegen hatte zeitgleich begonnen, sie links liegen zu lassen, und seine Zeit lieber mit den Älteren verbracht. Sie wusste genau, dass sie nie aufgehört hatte, ihn attraktiv zu finden. Wenn sie sich “True Life Stories” ansah, war sie nicht einfach nur aufgeregt, weil ein Bekannter eine Berühmtheit geworden war. Nein: Sie war
seinetwegen
nervös.
Als Rory einen Koffer quer über den sandigen Vorplatz und dann die Stufen zur Veranda hinauftrug, nahm Daria in seinem Gang ein leichtes Hinken wahr, und ihr fiel ein, dass er sich beim Football eine Verletzung zugezogen hatte und seine Laufbahn deshalb hatte beenden müssen.
Sie beobachtete Rory und den Jungen, bis sie den letzten Koffer hineingetragen hatten und im Haus verschwunden waren. Dann ging sie nach unten auf die Veranda. In einem der drei blauen Schaukelstühle saß Chloe und las ein Buch mit dem Titel “Sommerspaß für Kinder von 5-15”. Shelly hatte es sich am blau lackierten Picknicktisch bequem gemacht und bastelte eine Kette aus Muscheln. Das lange blonde Haar fiel ihr über die Schultern.
“Habt ihr gesehen, wer gerade ins Poll-Rory eingezogen ist?” Daria richtete die Frage eher an Chloe als an Shelly. Shelly wusste zwar, dass der Moderator und Produzent von “True Life Stories” früher einmal in ihrer Straße gewohnt hatte. Doch sie war Rory das letzte Mal als kleines Mädchen begegnet, und es war unwahrscheinlich, dass sie sich noch an ihn erinnern konnte.
Chloe warf einen Blick auf die andere Straßenseite. “Ich habe nicht richtig hingeschaut”, sagte sie. “Waren es ein Mann und ein Junge?”
Einen Moment lang fragte sich Daria, ob nur der Wunsch Vater ihrer Wahrnehmung gewesen war. Doch dann sah sie wieder den hinkenden Gang, die breiten Schultern und das sandfarbene Haar des Mannes vor sich.
“Das war Rory Taylor”, sagte sie.
“Wirklich?”, fragte Shelly. “Der von 'True Life Stories'?”
Chloe sagte nichts. Sie blickte immer noch auf die Straße.
“Ich bin mir ganz sicher”, meinte Daria.
“Warum sollte der denn herkommen?”, fragte Chloe.
“Na, immerhin gehört ihm noch das Cottage”, erwiderte Daria.
Chloe ließ ihren Blick noch einen Moment lang auf dem Poll-Rory ruhen, ehe sie sich wieder ihrem Buch zuwandte. Rorys Rückkehr
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