Sommerkind
Sommer in Kill Devil Hills zu verbringen, ausführlich erklärt zu haben. Doch entweder hatte Zack ihm nicht zugehört oder die in seinen Ohren wenig überzeugenden Argumente seines Vaters schon wieder vergessen.
“Na ja, du weißt doch, dass ich als Kind immer hier war”, sagte Rory.
“Ja. Und der Ort übt jetzt so eine nostalgische Anziehung auf dich aus”, ergänzte Zack in ironischem Ton.
“So ist es.” Rory bemühte sich, nicht beleidigt zu klingen. “Es war einmal ein sehr bedeutender Ort für mich, und mir gehört noch immer das Cottage, das meine Eltern damals gekauft haben. Ich war nicht mehr dort, seit ich siebzehn war.”
“Du meinst, das Haus hat die ganze Zeit über leer gestanden? Ist es dann nicht längst verfallen?”
“Das will ich nicht hoffen. Ich habe ein Immobilienbüro beauftragt, sich darum zu kümmern. Sie haben es an Touristen vermietet, und ich gehe davon aus, dass sie auch für die Instandhaltung gesorgt haben. Aber das werden wir ja gleich sehen.” In der Tat war er etwas beunruhigt deswegen.
“Du hättest doch auch einfach für eine Woche oder ein paar Tage kommen können, um nach dem Cottage zu sehen”, sagte Zack. “Stattdessen müssen wir einen ganzen beschissenen Sommer hier bleiben.”
“Ich habe meine Gründe”, sagte Rory und streifte seinen Sohn mit einem Seitenblick. Den Teil seines Plans hatte er ihm noch nicht verraten. “Es gibt da eine alte Geschichte, die ich hier für 'True Life Stories' recherchieren möchte. Willst du wissen, was?”
Zack zuckte die Achseln.
“Als ich vierzehn war, wurde in der Nähe meines Hauses ein Baby am Strand gefunden. Ein neugeborenes Mädchen. Die kleine Tochter unserer Nachbarn von gegenüber fand es am frühen Morgen und brachte es zu sich nach Hause. Natürlich wurde die Polizei eingeschaltet, aber die hat nie herausgefunden, wer das Baby dort zurückgelassen hat. Vor einigen Monaten bekam ich Post von diesem Baby, das inzwischen natürlich eine erwachsene Frau ist.”
“Was wollte sie denn?” Zack klang geradezu neugierig.
“Sie schrieb, sie wisse, dass ich in 'True Life Stories' alten Geheimnissen auf den Grund gehe und damals in der Nähe ihres Fundortes gewohnt hätte. Sie habe schon immer wissen wollen, wer ihre Mutter sei, und sie bat mich, es herauszufinden.” Er sah wieder zu Zack hinüber. “Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr wollte ich es versuchen”, fuhr er fort. “Seit dem Vorfall damals habe ich mir immer wieder den Kopf über die Sache zerbrochen, vor allem in der letzten Zeit. Erinnerst du dich noch an den Bericht über die Teeniemütter, die ihre Babys in der Toilette hinunterspülen oder in Müllcontainer stecken, als wären sie nicht mehr als Kaugummipapier? Macht es dich nicht wütend, wenn du so was hörst?” Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, weil er ohnehin keine erwartete. “Dass jemand so grausam sein kann, will einfach nicht in meinen Kopf. Wenn ich so was in den Nachrichten höre, muss ich immer an das Baby von damals denken. Ihr Name ist Shelly.”
“Und wo lebt diese … Shelly?”, fragte Zack.
“Sie wurde von der Familie des Mädchens adoptiert, das sie gefunden hat. Anscheinend lebt sie immer noch in dem Haus in der Sackgasse.” Er versuchte, sich an den Namen des Cottage zu erinnern. Ohne Erfolg. “Zumindest war das die Absenderadresse.” Shelly hatte ihm nur knappe Informationen gegeben. Der Brief war kurz gewesen – eigentlich nur eine Bitte. “Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie erst drei.” Rory erinnerte sich noch gut an das zierliche kleine Mädchen mit den langen weißblonden Haaren und den großen braunen Augen. Schon als Teenager hatte er den Anblick dieses langbeinigen blassen Kindes inmitten der dunkelhäutigen exotischen Cato-Familie als seltsam empfunden. Bevor er den Brief erhalten hatte, hatte er sich nicht genau an ihren Namen erinnern können. Er wusste nur noch, dass es Sandy oder Shelly war, irgendetwas, das mit dem Strand zu tun hatte. “Ich habe ihr nicht geantwortet”, sagte Rory. “Ich wollte sie lieber überraschen.”
Direkt vor ihnen lag die lange Brücke, die über die Currituck-Bucht führte, und Rorys Herzschlag beschleunigte sich. “Auf der anderen Seite der Bucht liegt Kitty Hawk”, erklärte er Zack. “Und direkt daneben Kill Devil Hills.”
Als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten, zeigte Rory auf einen der Meilensteine am Straßenrand und lächelte. “Die Menschen hier machen Orte
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