Sommerkind
Brief bekommen?” Shelly flüsterte fast.
“Deshalb bin ich hier.”
“Oh, vielen Dank!” Sie umarmte ihn flüchtig von der Seite und brachte ihn dann ins Wohnzimmer.
“Rory Taylor ist da”, verkündete Shelly der Frau, die mit einem Buch auf dem Sofa saß.
Rory brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass es Chloe war. Sie legte das Buch zur Seite und stand auf. “Hallo Rory.”
Sie war immer noch schön, auch wenn sie sich seit ihrer letzten Begegnung stark verändert hatte. Ihr Haar war kurz geschnitten und umrahmte in kleinen Löckchen ihr Gesicht. Sie sah wie eine griechische Göttin aus.
“Hi Chloe”, sagte er. Er wollte schon auf sie zugehen und sie umarmen, doch ihre steife und abweisende Haltung hielt ihn zurück. Von irgendwo aus dem Haus drang das Geräusch einer Motorsäge zu ihnen herüber. Baute Mr. Cato in der Werkstatt noch immer Möbel?
“Lange nicht gesehen”, meinte Chloe. “Du erinnerst dich sicher noch an Shelly, oder?” Sie sah zu ihrer Schwester.
“Natürlich. Obwohl ich gestehen muss, dass ich sie nicht wiedererkannt hätte.”
“Ich hole Daria.” Chloe ging zur Terrassentür. “Sie ist unten in der Werkstatt. Shelly, biete Rory doch schon mal etwas zu trinken an.”
“Wir haben Limonade, Eistee, Orangensaft, Ginger Ale und Cola”, sagte Shelly, nachdem Chloe aus dem Zimmer war.
“Orangensaft klingt gut.”
“Bin gleich zurück. Warte hier.”
Er sah ihr auf dem Weg in die Küche nach. Eigenartig, nach so langer Zeit wieder in dem Cottage zu sein. Die Möbel waren neu – kein Wunder, nach all den Jahren. Das Mobiliar im Poll-Rory, das die Immobilienfirma in seinem Auftrag besorgt hatte, gehörte zum Typ “eckige Holzklötze mit robuster Polsterung”, die jeglichen tätlichen Übergriffen durch die Mieter standhielten. Die blauen und gelben, traditionell gearbeiteten Möbelstücke der Catos wirkten um einiges gemütlicher. Und das Cremeweiß, in dem die Holzpaneele an den Wänden getüncht waren, rundete diesen heimeligen Charakter perfekt ab. Noch einmal fragte er sich, ob Mr. und Mrs. Cato noch lebten. Daria sei in der Werkstatt, hatte Chloe gesagt. War sie mit ihrem Vater da unten? Er konnte sich gut an die Werkstatt erinnern. Der kleine Raum lag im Parterre zwischen den Stelzen des Hauses und roch nach Holz und Metall. Er entsann sich, dass die Catos bei jedem heraufziehenden Unwetter alle Werkzeuge nach oben bringen mussten, um sie aus der Sturmlinie zu schaffen.
“Rory!” Daria kam durchs Wohnzimmer auf ihn zu und nahm ihn zur Begrüßung in den Arm. “Ich kann gar nicht fassen, dass du wirklich in Kill Devil Hills bist.”
Er löste sich aus der Umarmung, um sie anzuschauen. Als er ihr zuletzt begegnet war, musste sie um die vierzehn gewesen sein. Vermutlich war sie auch damals schon hübsch gewesen, doch jetzt besaß sie diese seltene exotische Schönheit, die ihn einst so an Chloe fasziniert hatte – dunkle Augen und eine kräftige schwarze Mähne. Im Gegensatz zu Chloe hatte Daria noch immer die Figur eines Wildfangs – straff und zierlich mit kleinen Brüsten – und einem Bronzeschimmer auf der Haut, der durch ihre Shorts und das T-Shirt gut zur Geltung kam. Ihr Haar wurde nur mit Mühe durch einen Pferdeschwanz gebändigt und war von einem blassen Puder überzogen. Sägespäne?
“Ich bin froh, dass ihr da seid”, sagte er mit einem Blick auf Chloe, die mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür stand und ein schiefes Lächeln auf den Lippen hatte. “Ich habe gehofft, euch hier anzutreffen.”
Shelly kam mit dem Orangensaft herein. “Wir sind
immer
hier”, sagte sie.
“Wie lange bleibst du?”, fragte Daria.
“Den ganzen Sommer. Zusammen mit meinem Sohn.”
“Setz dich doch.” Sie wies auf einen der Stühle.
Er folgte ihrer Aufforderung. Chloe und Daria setzten sich aufs Sofa, und Shelly machte es sich auf dem Fußboden bequem, den Rücken gegen einen Stuhl gelehnt. Sie trug ein tiefviolettes Sommerkleid. Ihre gebräunten Beine hoben sich deutlich von dem hellen Teppich ab.
“Also, was gibt es für Neuigkeiten?”, fragte Rory. “Eure Eltern? Sind sie …?”
“Mom ist vor vierzehn Jahren gestorben”, antwortete Daria. “Und Dad im letzten Jahr.”
“Das tut mir leid”, sagte Rory. “Ihr wisst wahrscheinlich, dass meine Eltern auch nicht mehr leben?”
“Ja”, erwiderte Daria. “Der Immobilienmakler, der sich um dein Cottage kümmert, hat es uns erzählt. Was ist mit Polly? Wie geht es ihr?”
“Sie
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