Sommerkind
hat sie immer 'Geschenk des Meeres' genannt.”
“Du kannst Shelly nicht vorwerfen, dass sie die Wahrheit erfahren möchte”, fand Rory. “Ich muss nur sicher sein, dass sie mit meinen Rechercheergebnissen auch zurechtkommt. Was immer es sein mag.”
“Du hast recht. Ich bin mir einfach nie sicher, wie viel sie von den Dingen um sie herum versteht.” Jill wechselte das Thema und fragte Rory nach seiner Schwester, und als Shelly aus dem Wasser kam, sprachen sie noch immer von Polly. Jill bot Shelly ein Handtuch an, doch die winkte ab. “Es geht schon”, sagte sie und wickelte sich den Rock wieder um die Hüfte. “Die Sonne wird mich schon trocknen.” Sie wandte sich an Rory. “Wollen wir noch ein Stück gehen?”
“Gerne.” Er stand auf und spürte, dass sein Knie etwas steifer war als vorher.
Sie verabschiedeten sich von Jill und schlenderten wieder durch das seichte Wasser. Shelly blieb stehen, um mit einer Frau zu sprechen, die zögernd die Zehen in das kühle Nass steckte. “Wenn Sie erst einmal drin sind, ist es herrlich”, schwärmte Shelly.
Zum ersten Mal verstand und teilte Rory Darias Sorge um ihre Schwester. Shelly war jedem gegenüber offen, ob Bekannter oder Fremder, und lief dadurch tatsächlich Gefahr, ausgenutzt zu werden.
“Hast du dich am Bein verletzt?”, fragte Shelly, als sie ihren Weg fortsetzten.
“Ich habe mir vor vielen Jahren beim Footballspielen das Knie ruiniert.”
“Tut es sehr weh?”
“Eigentlich nicht. Es ist ein chronischer Schmerz, ich habe mich also daran gewöhnt.”
“Was heißt das, 'chronisch'?”
“Es heißt anhaltend. Nicht so, wie wenn du dir den Zeh am Tischbein stößt. Das tut höllisch weh, ist aber nach ein paar Minuten wieder vorbei. Chronisch bedeutet, dass der Schmerz nicht so schlimm, aber immer da ist.”
“Igitt”, sagte Shelly lachend.
Sie bückte sich und hob eine Muschel auf. Nach genauer Betrachtung warf sie sie wieder in den Sand. “Daria war in letzter Zeit sehr traurig”, erzählte sie. Die Art, wie sie unvermittelt und arglos von einem Thema zum nächsten sprang, erinnerte ihn an Polly.
“Wirklich?”, fragte er. “Warum?”
“Weil Pete – das war ihr Verlobter – sich von ihr getrennt hat.”
“Oh.”
“Ich konnte ihn nie besonders gut leiden. Er war einer dieser He-Man-Typen. Weißt du, was ich meine?”
Rory lachte. “Ich glaube schon. Du meinst, ein Macho?”
“Genau. Er hatte sogar Tätowierungen an den Armen, eine war ein Seepferdchen.” Sie rümpfte die Nase. “Aber Daria hat ihn geliebt, und sie war sehr, sehr traurig, als er gesagt hat, dass er sie nicht heiraten will. Sie waren sechs Jahre zusammen. Dann ist er nach Raleigh gezogen.”
“Weißt du, warum sie sich getrennt haben?” Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, denn möglicherweise war es Daria nicht recht, dass er mehr über diese Sache erfuhr.
“Daria hat es mir nie gesagt”, antwortete Shelly. “Sie sagte, es sei etwas Persönliches, also hat es wahrscheinlich mit Sex zu tun.”
Wieder musste Rory lachen. “Es gibt auch persönliche Dinge, die nichts mit Sex zu tun haben.”
Shelly sah ihn schüchtern an. “Daria mag dich.”
“Ja, ich mag sie auch.” Hoffentlich wollte Shelly nicht andeuten, dass sich zwischen ihm und Daria eine Liebesbeziehung entwickeln könnte. “Als Kinder waren wir sehr eng befreundet”, sagte er. “Und ich hoffe, dass wir wieder Freunde werden.”
“Rory, weißt du was?”, fragte Shelly.
“Was denn?”
“Ich habe auch chronische Schmerzen.”
“Wirklich? Und wo?”
“Niemand weiß davon.”
“Willst du es mir erzählen?” Seine Alarmglocken schrillten. War sie etwa krank?
“Nur wenn du mir versprichst, Daria und Chloe nichts zu verraten. Es würde sie nur traurig machen.”
“Ich verspreche es.”
“Ich habe keine Schmerzen in den Armen oder Beinen. Mir tut alles weh. Mein Körper, mein Kopf und mein Herz. Alles tut weh, weil ich nicht weiß, wer meine richtige Mutter ist.”
Rory sah in ihre wunderschönen braunen Augen, die voller Hoffnung und Traurigkeit waren, und dieses Mal legte er tröstend den Arm um ihre Schultern und zog sie sanft an sich. Jetzt hatte sie sicher nichts dagegen.
9. KAPITEL
D ie Hitze im Auto war kaum auszuhalten. Zwar war es draußen nicht besonders heiß und Grace hatte die Fenster heruntergekurbelt. Aber nach knapp zwei Stunden im stehenden Wagen drohte sie zu zerfließen. Sie hatte ihr Auto am Ende der Sackgasse geparkt, nahe der
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