Sommerkind
Strandstraße und nur zwei Grundstücke von dem Cottage entfernt, wo, wie sie herausgefunden hatte, Rory Taylor wohnte. Zuvor war sie an seinem Haus vorbeigefahren und hatte das Schild mit der Aufschrift “Poll-Rory” gesehen. Für wen oder was steht bloß das “Poll”?, hatte sie sich gefragt.
Sie war nervös. Und das schon, seit sie am Morgen ihr Apartment in Rodanthe verlassen hatte. Von Rodanthe nach Kill Devil Hills hatte sie nur eine halbe Stunde gebraucht, doch es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sie wusste genau, dass diese Aktion verrückt war; ja, fast kam es ihr so vor, als täte sie etwas Verbotenes.
Grace ist gerade einfach nicht sie selbst.
Auf einmal öffnete sich die Eingangstür des Poll-Rory. Ihr Herzschlag legte einen Zahn zu und übersprang dabei ein, zwei Schläge. Sie erschrak. Hatte sie am Morgen ihre Medizin genommen? Sie erinnerte sich nicht, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Der Mann, der aus der Tür trat, war ohne Zweifel Rory Taylor. Sie wusste, wie er aussah; jeder wusste es. Er trug einen Liegestuhl unterm Arm, und Grace verzog das Gesicht, als er auf den Strand zusteuerte.
Mist.
Sie hatte gehofft, er würde in sein Auto steigen und aus der Sackgasse herausfahren. In ihrer Vorstellung war sie ihm auf seinem Weg zum nächsten Lebensmittelladen gefolgt, wo sie dann in einem der schmalen Gänge “versehentlich” mit ihm zusammengestoßen wäre. Aber wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wollte, musste eben Plan B her. Eigentlich sollte sie sich nicht der Sonne aussetzen, doch was machte jetzt schon noch ein Hautausschlag oder ein Sonnenbrand? Sie griff nach dem Strandlaken auf der Rückbank und stieg aus dem Wagen.
Rory hatte gerade das erste Kapitel seiner aktuellen Taschenbuchlektüre gelesen, als eine Frau ihre Decke im Sand neben seinem Liegestuhl ausbreitete. Bei dem Versuch, sich weiter auf sein Buch zu konzentrieren, scheiterte er, denn er musste diese Frau einfach ansehen. Hoffentlich blieben seine Blicke hinter den dunklen Sonnengläsern unbemerkt. Die Frau war bezaubernd – groß und schlank. Ihr hellbraunes Haar glänzte in der Sonne, und der hochgeschlossene marineblaue Badeanzug betonte ihre Schultern auf eine sexy Art. Ihre Blässe ließ vermuten, dass sie bisher nicht besonders viel Zeit am Strand verbracht hatte. Sie legte sich auf den Bauch, nahm die Sonnenbrille ab und schloss die Augen.
Sie wird rot wie ein Hummer werden.
Es war mitten in der Woche, und der Strand war zwar gut besucht, jedoch nicht überfüllt. Zack saß mit einigen Jugendlichen auf einer Decke am Wasser. Er war schon jetzt so braun wie andere nach einem ganzen Sommer nicht, und die Sonne hatte sein Haar um mehrere Nuancen aufgehellt. War Rory in Zacks Alter auch so schnell braun geworden? Hatte er auch so gut ausgesehen? Falls ja, war er sich dessen nie bewusst gewesen.
Er wandte sich wieder seinem Buch zu und war gerade in der Mitte des dritten Kapitels angekommen, als die Frau neben ihm plötzlich aufschrie und von ihrer Decke aufsprang.
Verwirrt sah Rory zu ihr auf. “Was ist los?”, fragte er.
Die Frau lachte, und ihre Wangen nahmen einen leichten Rotton an. “Ich glaube, mich hat etwas gebissen”, sagte sie und rubbelte mit der Hand über ihren Arm. “Wahrscheinlich nur eine Bremse.” Sie trug einen tiefen Pony, der ihr Gesicht einrahmte und ihre klaren Gesichtszüge unterstrich, und war älter, als Rory zunächst vermutet hatte. Ende dreißig, Anfang vierzig.
“Ja, davon gibt es hier einige”, sagte er, auch wenn er diesen Sommer noch keine einzige gesehen hatte.
Als die Frau ihn auf einmal reglos anstarrte, wusste er, dass sie ihn erkannt hatte.
“Sie sind Rory Taylor!”, sagte sie.
“Ertappt.” Er legte das aufgeschlagene Buch mit den Seiten nach unten in den Sand, froh darüber, einen Gesprächseinstieg gefunden zu haben. “Und Sie sind …?”
“Grace Martin”, antwortete sie. Sie setzte sich wieder, rieb sich noch immer über den unsichtbaren Stich und lächelte ihn an. Sie hatte ein offenes, ehrliches Lächeln, das man unwillkürlich erwidern musste.
“Ich lebe unten in Rodanthe”, sagte sie, während sie ihre Sonnenbrille von der Decke nahm und aufsetzte. “Ich habe hier eine Freundin besucht und wollte vor der Heimfahrt noch das schöne Wetter am Strand auskosten.” Ihre Hände zitterten noch leicht wegen des Zwischenfalls mit der Bremse, und sogar ihre Stimme schien zu beben. Das Rot, das einfach nicht
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