Sommerkind
auf. “Ich habe es nicht geschafft, dich umzustimmen, oder?”
“Auf jeden Fall werde ich über deine Worte nachdenken”, versprach er, “obwohl ich finde, dass die endgültige Entscheidung bei Shelly liegen sollte.” Er erhob sich ebenfalls und folgte ihr zur Treppe. Wortlos gingen sie durch das Haus.
“Gibt es hier in der Nähe ein Fitnessstudio?”, wollte er wissen, als sie schon fast an der Haustür waren.
“Ja, es nennt sich Health-Club. Ist eigentlich ganz nett dort. Ich gehe mehrmals die Woche hin.” Sie erklärte ihm, wo der Club war, und schlug ihm vor, sich nach Sommerangeboten zu erkundigen.
Auf der Veranda fragte Rory: “Suchst du den Strand immer noch frühmorgens nach Muscheln ab? So wie früher?”
Daria lachte. “Inzwischen muss ich frühmorgens zur Arbeit”, erwiderte sie. “Und wenn ich frei habe, schlafe ich lieber aus.”
Durch die Fliegengittertür blickte sie zum Sea Shanty. Jetzt war es Shelly, die den Strand in der Morgendämmerung liebte. Es war Shelly, die bei Sonnenaufgang die Muscheln verlas und sich die Kraft vom Meer holte. Daria könnte und würde nicht zulassen, dass Rory oder irgendjemand sonst die heile Welt ihrer Schwester zerstörte.
8. KAPITEL
R ory saß auf seiner Veranda und lauschte dem einschläfernden Rhythmus der Wellen, die anschwollen und sich dann brachen. Er wartete darauf, dass Shelly ihr Cottage verließ, denn er wollte mit seiner Recherche bei ihr beginnen. Fast hatte er das Gefühl, für ein Gespräch mit ihr Darias Erlaubnis zu brauchen, besonders nach dem Gespräch vom Abend zuvor. Aber Shelly war zweiundzwanzig Jahre alt, Herrgott noch mal.
Neben ihm saß eine Golden-Retriever-Hündin, die ihren großen Kopf vertrauensvoll auf Rorys Knie gelegt hatte. Er grub seine Finger in ihr dickes Fell und kraulte sie am Nacken und hinter den Ohren. Er hatte keine Ahnung, wo die Hündin herkam – als er sich gesetzt hatte, war sie plötzlich aufgetaucht –, aber ihre Gesellschaft tat ihm gut.
Von der Veranda aus konnte er zwar das Meer, nicht jedoch den Strand sehen. Doch auch so wusste er, dass es dort rappelvoll war und Zack sich mit den anderen Jugendlichen dort tummelte. Bestimmt würde er den ganzen Tag am Meer verbringen. Zwar hatte er Rory auf dessen Nachfragen nur wenig über seine neuen Freunde erzählt, aber er wollte wohl einfach nicht zugeben, dass der Sommer in Kill Devil Hills gar nicht so übel war.
Rory meinte, auf der Veranda gegenüber eine Bewegung wahrgenommen zu haben, doch niemand kam heraus. Er hatte sich nach Darias Besuch ernsthafte Gedanken über ihre Vorbehalte gemacht, sich überlegt, ob er tatsächlich weiter in der Vergangenheit herumstochern wollte. Er war innerlich zerrissen. Shelly war stark genug gewesen, ihm von ihrer Situation zu berichten, und angesichts seines Verhältnisses zu ihr und seiner eigenen Erinnerung an das Ereignis hatte er auch ein persönliches Interesse an diesem Fall. Ohne Zweifel wäre die Geschichte vom hübschen Findelkind ein Riesenerfolg. Und obendrein müsste die Person, die ihr Kind am Strand ausgesetzt hatte, endlich der Wahrheit ins Gesicht sehen. Er hatte häufig über diese junge Frau nachgedacht, sich gefragt, ob sie ihr Leben unbeirrt und ohne Schuldgefühle weitergeführt hatte. Er hegte böse Vorurteile gegen sie, möglicherweise zu viele. Eigentlich war er nicht der Typ Mensch, der anderen etwas Schlechtes wünschte, doch die grausame Tat dieser Person erschien ihm unverzeihlich. Besonders jetzt, nachdem er Shelly kennengelernt und erfahren hatte, dass sie nur knapp überlebt hatte. Doch was, wenn die Frau reumütig war und es nur mit Mühe geschafft hatte, wieder ein normales Leben zu führen? Welches Recht hatte er, das zu zerstören?
Und dennoch – trotz Darias Protests und seiner eigenen Zweifel war es an Shelly, die endgültige Entscheidung zu treffen. Er musste ihr vorher nur klarmachen, worauf sie sich einlassen würde, und deswegen wollte er heute mit ihr sprechen. Wenn Shelly dann immer noch wünschte, dass er der Sache auf den Grund ging, bliebe nur noch zu hoffen, dass Daria schließlich einlenkte. Er respektierte Daria und hütete die Reste des Bandes, das sie als Kinder verbunden hatte, wie einen Schatz. Auf keinen Fall wollte er den Rest des Sommers ihr Feind sein.
Die Hündin bemerkte Shelly zuerst. Sie hob den Kopf und blickte in Richtung des Sea Shanty, und nur wenige Sekunden später erschien Shelly an der Seite des Hauses. Sie war aus der Hintertür gekommen
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