Sommerkind
ein paar vor ihm.”
Es war ein wunderschöner Tag. Die sanfte Brise, die vom Ozean herüberwehte, war gerade stark genug, um den Drachenfliegern den erforderlichen Auftrieb zu geben, damit sie zur Freude der Zuschauer ihre Kunststücke vorführen konnten. Aber Daria konnte sich nur schlecht konzentrieren. Sie sah Grace mit Shelly sprechen, konnte jedoch nicht hören, was sie sagte.
Lass meine Schwester in Ruhe, dachte sie. Seitdem Daria die Wahrheit über Grace kannte, hatte deren Interesse an Shelly etwas Gruseliges. Außerdem wusste sie, dass Grace Shelly mit ihrer unablässigen Fragerei nervte. Sie wünschte, sie säße neben ihrer Schwester und könnte sie beschützen.
“Da ist Sean.” Chloe zeigte zum höchsten Punkt des Dünenkamms, wo ein Mann sein Gurtzeug in einen Hängegleiter einhakte. Die Entfernung war ziemlich groß, und Daria war erstaunt, dass Chloe ihn überhaupt erkennen konnte. Sean schloss den Kinnriemen seines Helms, zog kurz und fest an seinem Gurt, und der Großteil der Zuschauer richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn und seine Flugvorbereitungen. Grace wandte ihren Blick von dem Priester ab, um mit Shelly zu sprechen, als der Wind unter ihren Pony fuhr und Daria für wenige Sekunden den unverkennbaren spitzen Haaransatz sah – denselben Haaransatz, der auch ihre Tochter Pamela gekennzeichnet hatte.
Pfarrer Macy machte mit dem Drachen ein paar sonderbare Schritte nach hinten. Dann lief er, den Drachen auf seinen Schultern, zum Rand der Düne und hob ab. Elegant glitt er unter den “Ohs” und “Ahs” der Zuschauer hoch in den Himmel. “Holen Sie sich die Goldmedaille, Pfarrer M.!”, rief jemand. Der Priester war in der Menge der unbestrittene Favorit der Einheimischen.
Daria spürte die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht, während sie dem Priester zusah, der mit seinem Drachen mühelos durch die Luft schwebte, höher als irgendein anderer Flieger seit ihrer Ankunft. Eine Welle des Applauses schwappte über die Dünen. Die Leute warteten voller Spannung auf sein erstes Kunststück. Dann schien sein Drachen auf einmal stehen zu bleiben. Er hing reglos in der Luft, so ruhig wie die Sonne im Himmel über ihnen. Gehörte das zu seiner Vorstellung?
“Was macht er denn da?”, fragte Andy, doch noch ehe jemand antworten konnte, neigte sich das bunte Stoffdreieck nach vorn und raste im Sturzflug auf den Boden zu. Im selben Moment, als der Hängegleiter samt Priester am Fuß der Dünen mit der Nase voran in den Sand stürzte, sprang Daria entsetzt auf.
Einige der Zuschauer schrien, andere keuchten vor Schreck, und nach einem kurzen Moment des Zögerns bahnte sich Daria ihren Weg durch den Pulk und rannte die Düne hinab zu dem Priester. Nur am Rande bemerkte sie Chloe zu ihrer Linken und Andy auf der rechten Seite. Waren unter den Zuschauern noch andere Rettungskräfte? Es mussten noch welche da sein.
Bitte, lass jemanden hier sein, der mir hilft.
Die Leute drängten sich in einem Kreis um den Pfarrer. “Bewegt ihn nicht!”, rief sie, als sie die restlichen Meter der Düne auf dem Po hinunterrutschte. Der heiße Sand verbrannte die Rückseite ihrer Oberschenkel.
“Das ist Daria Cato”, sagte jemand. “Lasst sie durch.”
Daria durchbrach den Menschenkreis und ließ sich neben dem verletzten Pfarrer auf die Knie fallen. Doch im Nu war ihr klar, dass es ihm weder schaden noch helfen würde, wenn man ihn bewegte. Sein Kopf lag unnatürlich verdreht zwischen seinen Schultern. Sie presste die Finger an seine Halsschlagader, um seinen Puls zu fühlen. Hinter ihr fing ein Kind an zu weinen.
Auf der anderen Seite fiel nun auch Chloe auf die Knie. Dann sah sie ihre Schwester an. “Kannst du irgendwas tun?”, fragte sie.
Daria schüttelte den Kopf. “Er hat sich das Genick gebrochen.” Ihr Mund war trocken. Die Worte waren nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
Chloe nahm eine Hand des Priesters und hielt sie in den ihren. Über ihre Wangen flossen lautlose Tränen, und während die Luft von Sirenengeheul erfüllt war, betete sie stumm für den abgestürzten Pfarrer.
31. KAPITEL
S helly und Daria saßen in der bedrückenden Stille der St.-Esther's-Kirche dicht nebeneinander. Vorn erhoben sich nacheinander Trauergäste, die vor der Kanzel mit brüchiger Stimme ihre Reden hielten, in denen sie ihre Achtung vor Pfarrer Macy ausdrückten. Die Gesichter der Redner wurden vom Licht, das durch die bunten Kirchenglasfenster fiel, blau, grün oder pink gefärbt. Auch Chloe war unter ihnen.
Weitere Kostenlose Bücher