Sommerkuesse
vergessen, dass es für Leute mit Problemen immer sehr verlockend ist, sich für eine Weile mit anderer Leute Probleme abzulenken. Wahrscheinlich hab ich es vergessen,
weil ich es so verlockend fand, mich mit Annes Problemen von meinen eigenen abzulenken.
Verdammt. Soll ich lügen? Ach, was!
»Von hier«, sage ich.
»Kenne ich ihn?«
Ich schüttele den Kopf. »Glaub ich nicht. Und … ich sag’s dir lieber gleich – vielleicht willst du danach nichts mehr mit mir zu tun haben: Es war kein ER. Es war eine SIE.«
Anne sieht mich eine Weile an, ohne etwas zu sagen. »Also, ich steh auf Jungs«, sagt sie dann nervös. »Ich meine, nur … falls du dachtest … also, es stört mich überhaupt nicht oder so, nur ich stehe eben auf Jungs.«
»Ich weiß«, sage ich. »Und ich finde es gut, dass du es so locker nimmst.«
Wenn ich richtig fies wäre, würde ich sie jetzt umarmen. Aber dann würde sie einen Herzinfarkt bekommen.
»Sie hat mit mir Schluss gemacht, weil sie sich in einen Typen verliebt hat«, sage ich. »Das war das Schlimmste daran.«
»Tut mir Leid«, sagt Anne.
Wir sitzen eine Weile schweigend da. Das Schaukeln des Busses erinnert mich wieder an die Grundschule. Zum Glück riecht es wenigstens nicht so wie damals im Schulbus – diese Mischung aus Pausenbrot und Kotze. Im Vergleich zu unserem Schulbus ist das hier außerdem ein echter Luxusliner. Die Sitze sind richtig gepolstert, nicht mit Plastik überzogen, und es sind auch keine Löcher in den Bezügen, wo jemand im Schaumstoff rumgepopelt hat. Außerdem kleben unter den Sitzen bestimmt nicht annähernd so viele ausgelutschte Kaugummis.
»Wie war das denn, als ihr euch kennen gelernt habt?«, fragt Anne plötzlich neugierig. »Also, ich meine, woran hast du es gemerkt?«
Einen Augenblick lang verstehe ich nur Bahnhof. Dann kapiere ich. »Ach so, du meinst wohl, woran ich gemerkt hab, dass sie lesbisch ist? Wir haben uns einfach durch das internationale Handzeichen verständigt.«
»Ah«, sagt Anne. Aber dann beschließe ich, mich zu erbarmen.
»War nur ein Witz. Es gibt gar kein internationales Handzeichen. Ich weiß nicht, wieso ich es wusste – woher weiß man überhaupt, ob sich jemand für einen interessiert?«
Wie bitte? Keine Analyse parat? Keine Untersuchung, kein Diagramm? Ms Lancaster, geht es Ihnen noch gut?
Plötzlich rumpelt der Bus über ein tiefes Schlagloch. Hoffentlich ist Alex und Ben gerade ihr Doughnut hochgekommen. Ich trinke einen Schluck von meinem Kaffee, der zwar nur noch lauwarm ist, aber gut schmeckt.
»Liebe ist Scheiße«, stellt Anne fest.
»Sehr wahr«, stimme ich ihr zu. »Konzentrieren wir uns lieber auf unsere Karriere – schließlich sind wir ja moderne Frauen.«
»Genau«, sagt Anne. Aber dann schüttelt sie doch wieder den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Ich will beides. Einen Beruf, der mich fordert, und ein erfülltes Liebesleben.« Sie klingt, als wäre sie Gast in einer Talkshow, wobei ich nicht weiß, ob das nicht beabsichtigt ist.
»Ich glaub, ich hab eine Idee«, sage ich nachdenklich. »Wir bleiben ja noch eine Weile hier. Es wäre doch genial, wenn du dir hier einen neuen Freund suchst und deinem John dann
einen Brief schreibst … dass du gern weiterhin mit ihm befreundet bleiben möchtest und dich im übrigen inzwischen in Pierre oder Wen-auch-Immer verliebt hast.«
Anne kichert. »Das wäre nicht schlecht«, sagt sie. »Nur dass ich hier leider nie irgendwelche Jungs kennen lerne. Abgesehen von denen in unserem Kurs – bäh.«
Tatsächlich sind Ben und Alex nur die zwei größten Nullen aus einer Gruppe von Matschköpfen.
»Bäh trifft es gut. Und in der Mensa? Gibt’s da niemanden, den du anflirten könntest?«
»Ja klar, mit vollen Backen flirtet es sich so super«, sagt sie sarkastisch.
»Machst du sonst noch was?«
Anne denkt eine Weile nach. »Ich gehe morgens immer in den Fitnessraum und trainiere eine halbe Stunde auf dem Stepper.«
»Na, also! Da gibt es garantiert einen passenden Kandidaten für dich. Wenn ich an all den Schweiß denke, das Spiel der Muskeln … da vibriert doch die Luft!« Und das von mir, die ich niemals freiwillig den Eingang eines Fitnessstudios verdunkeln würde.
»Hmm, ein paar Schneckeriche sind da schon dabei«, gibt Anne zu. »Ich hab mir nur nie erlaubt, sie richtig anzuschauen … aber jetzt. Okay! Ich werde mich nicht unterkriegen lassen!« Sie klingt wieder wie ein Talkshowgast, aber diesmal bin ich mir ziemlich sicher, dass der
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