Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
eine Elfe, aber schon weitaus schneller als eine Sterbliche. Er fragte sich, ob es ihr überhaupt aufgefallen war.
»Soll ich versuchen, sie zurückzuholen?«, fragte einer der Ebereschenmänner.
Keenan drehte sich zu Tavish und Niall um. »Sie ist weg.«
»Ja, das ist sie«, sagte Tavish und gab den Leibwächtern ein Zeichen wegzutreten.
Sie zogen sich in den Schatten zurück, noch nah genug, um hören zu können, ob sie gerufen wurden, aber nicht so nah, dass sie ein leises Gespräch mithören konnten.
Niall nahm Keenans Arm. »Lass ihr eine Nacht Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen.«
Tavish trat an Keenans andere Seite.
»Sie wollte darüber nachdenken. Das hat sie drinnen gesagt.« Keenan sah zwischen Tavish und Niall hin und her. »Sie wird es auch tun. Sie muss es tun.«
Weder Niall noch Tavish erwiderte etwas, während sie ihn wegführten und seine Leibgarde ihnen schweigend folgte.
Fünfundzwanzig
»Die Elfen fühlen sich, wie wir wissen, stark von der
Schönheit sterblicher Frauen angezogen, und …
der König beauftragt seine zahlreichen Diener damit,
[sie] zu finden und, falls möglich, zu entführen.«
Lady Francesca Speranza Wilde: Legenden, dunkler
Zauber und Aberglaube des alten Irland (1887)
Ashlyn hörte erst auf zu rennen, als sie vor Seths Tür ankam. Sie stieß sie auf, rief nach ihm und blieb wie angewurzelt stehen, als sie die kleine Gruppe sah, die sich dort eingefunden hatte.
»Ash?« Noch bevor sie sich sammeln konnte, war er bei ihr und umarmte sie.
»Ich muss …« Sie japste, ihre Haare klebten ihr an Gesicht und Hals. Das Klirren von Flaschen und die Geräusche der Anwesenden nahm sie kaum wahr, während sie Atem zu schöpfen versuchte.
Niemand sagte etwas, zumindest hörte sie nichts, als Seth sie in den zweiten Waggon führte, in dem sein winziges Bad und sein Schlafzimmer untergebracht waren. Vor der geschlossenen Tür blieben sie stehen.
»Bist du verletzt?« Er fuhr mit den Händen über ihre Arme, untersuchte ihr Gesicht und ihre Hände und schaute nach Rissen in den lächerlichen Klamotten, die Donia ihr gegeben hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist kalt. Ich hab Angst.«
»Geh unter die Dusche und wärm dich auf. Ich versuche in der Zwischenzeit, die anderen loszuwerden.« Er öffnete die Tür und schaltete den kleinen Heizstrahler an. Das warme Surren erfüllte den Raum, als er zu glühen begann.
Sie nickte zögerlich.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging.
Als Ashlyn aus dem winzigen Bad kam, war es still im Waggon; alle waren gegangen. Sie blieb in der Tür stehen – jetzt, wo sie bei Seth war, fühlte sie sich schon wieder sicherer. Grams hatte es nur gut gemeint, aber durch ihre Angst hatten die Elfen eine zu große Bedeutung gewonnen – als ob sogar die irdischen Dinge irgendwie vom Verhalten der Elfen abhingen.
Seth lag ausgestreckt auf dem Sofa, die Hände hinter dem Kopf, die Füße baumelten über der Lehne. Er schien wegen ihres panischen Auftritts gar nicht erschrocken oder auch nur überrascht zu sein.
Sehe ich für ihn jetzt anders aus?
Unsichtbar, dachte sie und ging zu ihm hin. Er stand weder auf, noch schaute er hoch oder sprach sie an.
Er kann mich wirklich nicht sehen.
Sie fuhr mit ihren Fingern über seinen Arm, verharrte auf dem Bizeps.
»Fällt es dir leichter, offensiv zu sein, wenn du so bist?« Er schaute sie direkt an.
Sie riss ihre Hand weg. »Was? Warum …«
»Das Zeug aus Donias Rezept. Du bist ganz schattenhaft, wie die Elfen draußen, aber ich sehe dich trotzdem.« Er rührte sich nicht, blieb genauso reglos liegen wie vorher, als sie ins Zimmer gekommen war. »Das macht mir aber nichts aus.«
»Ich bin schon genauso verdorben wie sie.«
»Nein.« Er rutschte zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Du hast ja keinen Fremden auf der Straße betatscht. Sondern mich.«
Sie setzte sich auf das entlegenste Ende des Sofas. Er schlang seine Beine um sie, indem er eins hinter ihren Rücken schob und das andere auf ihren Schoß legte.
»Keenan ist davon überzeugt, dass ich die Sommerkönigin bin.«
»Die was?«
»Die, die ihm seine verlorene Macht zurückgeben kann. Wenn er seine Königin nicht findet, wird es immer kälter und kälter. Er sagt, dass dann alle, auch die Menschen, sterben werden. Das ist es, worum es bei dem Ganzen geht. Er glaubt, ich bin diese Königin, die alles verändern wird.« Sie beugte sich ein kleines Stück vor, damit Boomer, der gerade über die Rückenlehne kroch, sich
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