Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
mehr lange widerstehen können, doch Irial antwortete nicht – konnte noch nicht antworten.
Er hob eine leere Patronenhülse vom Boden auf und drehte sie in seinen Fingern. Diese Messinghülse konnte einer Elfe eigentlich nichts anhaben, und auch die Bleikugel nicht, die er bei seiner Ankunft aus dem Körper der toten Elfe entfernt hatte. Aber es war dennoch geschehen: Die einfache Kugel eines Sterblichen hatte sie getötet.
»Irial?« Die Todeselfe hatte sich so sehr auf die Zunge gebissen, dass Blut über ihre Lippen gesickert und ihr spitzes Kinn hinabgelaufen war.
»Gewöhnliche Kugeln«, murmelte er und drehte das Metall weiter zwischen seinen Fingern. In all den Jahren, seit die Sterblichen angefangen hatten, sie einzusetzen, hatte er noch nie eine der Seinen durch eine solche Kugel sterben sehen. Sie wurden angeschossen, ja, aber davon hatten sie sich stets wieder erholt. Wie sie sich von fast allem erholten, was Sterbliche ihnen antaten – außer von schweren, mit Stahl oder Eisen zugefügten Verletzungen.
»Geh nach Hause und klage. Wenn die anderen dazukommen, sag ihnen, dass diese Gegend ab sofort tabu ist.« Damit hob er die blutüberströmte Elfe in seine Arme und ging davon, während die Banshee bereits im Laufen ihr schauerliches Geheul anstimmte. Ihre Schreie würde sie alle herbeirufen, seine nunmehr verwundbaren Dunkelelfen, und ihnen die schreckliche Kunde überbringen, dass ein Sterblicher eine Elfe getötet hatte.
Als der aktuelle Gabriel, Anführer der Hundselfen und Irials linke Hand, wenige Augenblicke später zu ihm trat, hatte sich Irials geflügelter Schatten bereits wie ein Sargtuch über die Straße gelegt. Seine tintenschwarzen Tränen tropften auf Guins Leichnam hinab und wuschen den Zauber hinweg, der ihr noch immer anhaftete. »Nun habe ich lange genug damit gewartet, etwas gegen die wachsende Stärke des Sommerhofs zu unternehmen«, sagte er.
»Zu lange«, erwiderte Gabriel. »Und wenn du noch länger wartest, wird es einen Krieg zu ihren Bedingungen geben, Iri.«
Wie seine Vorgänger war dieser Gabriel – dessen Name seinen Rang bezeichnete, nicht seine Person – stets offen und ehrlich mit ihm; ein Charakterzug von unschätzbarem Wert.
»Ich will keinen Krieg zwischen den Höfen, ich will nur Chaos.« Irial blieb auf der offenen Veranda eines Hauses mit dichten Fensterläden stehen; eines von vielen Häusern, die er in allen Städten, in denen sie sich niederließen, für seine Elfen aussuchte. Er starrte das Haus an, in dem Guin aufgebahrt werden würde, damit der Hof sie betrauern konnte. Schon bald würde die Kunde von Guins Tod zu Bananach durchdringen, und die kriegslüsterne Elfe würde erneut mit ihren endlosen Intrigen beginnen. Irial freute sich nicht gerade darauf, Bananach besänftigen zu müssen. Sie wurde immer ungeduldiger in ihrem Drängen auf mehr Gewalt, mehr Blut, mehr Zerstörung.
»Ein Krieg ist nicht im Sinne unseres Hofes«, sagte Irial ebenso zu sich selbst wie zu Gabriel. »Das ist Bananachs Bestreben, nicht meins.«
»Wenn es nicht deins ist, dann ist es auch nicht das von uns Hunden.« Gabriel strich über Guins Wange. »Guin wäre derselben Meinung. Sie würde Bananach auch nicht unterstützen, nicht einmal jetzt.«
Drei Dunkelelfen kamen aus dem Haus; rauchige Schwaden hafteten an ihnen, als sickerten sie aus ihrer Haut. Stumm nahmen sie Guins Leichnam entgegen und trugen ihn hinein. Durch die offene Tür sah Irial, dass sie bereits angefangen hatten, überall im Haus schwarze Spiegel aufzuhängen und jede erreichbare Oberfläche abzudecken – in der Hoffnung, etwas von der Dunkelheit würde seinen Weg zurück zu ihr finden und stark genug sein, in die leere Hülle zurückzukehren, so dass Guin genährt und geheilt werden konnte. Doch das würde nicht geschehen: Sie war endgültig von ihnen gegangen.
Irial sah sie oft in seiner Straße, dreckige Sterbliche mit so viel schöner Gewalttätigkeit in sich, die er nicht für sich nutzen konnte. Das wird sich ändern . »Finde sie. Finde die, die das getan haben. Töte sie.«
Die vorher leere Haut um die alte Oghamschrift auf Gabriels Unterarm füllte sich als Zeichen der Entgegennahme dieses Befehls mit geschwungener Schrift. Die Befehle des Königs der Finsternis, die Gabriel ausführte, waren immer klar und deutlich auf seiner Haut verzeichnet – um andere einzuschüchtern und den Willen des Königs klar kundzutun.
»Und schick die anderen los. Sie sollen ein paar von Keenans
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