Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
es getan hätten – irgendwelche anderen gefühlsduseligen Tröstungsversuche, bei denen sie nur erst recht in Tränen ausgebrochen wäre.
»Bestimmt.« Leslie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Welt sich von einem Punkt in ihrem Inneren her auflöste, und wusste, dass sie nichts tun konnte, um sie wieder ganz zu machen.
Seit wann wissen sie es wohl schon?
Seth schluckte hörbar, bevor er hinzufügte: »Das mit Irial wird sie auch erfahren. Du kannst ruhig mit ihr reden.«
»So wie sie mit mir?« Leslie sah ihm in die Augen.
»Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber …« Er biss auf seinen Lippenring und sog ihn in den Mund. Dann sah er eine Zeit lang stumm vor sich hin, bis er nachschob: »Ihr wärt beide besser dran, wenn ihr ehrlich miteinander umgehen würdet.«
In Leslie stieg Panik auf, eine schwarze Blase, die ihr die Luft abdrückte. So wie damals, als die Hände dieser Männer sich … Nein. Sie würde nicht daran zurückdenken, auf gar keinen Fall. In letzter Zeit waren all diese schrecklichen Gefühle so weit weg gewesen. Sie wünschte sich, dass sie dort auch blieben. Sie wünschte sich, einfach überhaupt nichts mehr zu empfinden. Sie beschleunigte ihren Schritt, rannte fast, wobei ihre Füße ein gleichmäßig wiederkehrendes, dumpfes Geräusch auf dem Gehweg erzeugten.
Wenn ich vor diesen Erinnerungen davonlaufen könnte … Das konnte sie zwar nicht, aber es war besser, wenn ihr Herz vor Anstrengung raste als vor Grauen – dem Grauen, das diese Erinnerungen ihr einflößten. Sie rannte los.
Und Seth rannte gleichmäßig neben ihr her, nicht hinter ihr und nicht vor ihr, sondern an ihr Tempo angepasst. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten oder sie zu bremsen. Er lief einfach neben ihr her, als wäre es das Normalste von der Welt, so durch die Straßen zu traben.
Erst als sie an dem stillgelegten Eisenbahnwaggon angekommen waren, in dem Seth wohnte, brachte sie es fertig anzuhalten. Sie atmete tief ein und aus und schaute dabei auf eines der rußgeschwärzten Gebäude auf der anderen Straßenseite. Während sie so auf einem kleinen Stück Rasen stand, dessen Existenz auf diesem verkommenen Gelände eigentlich verwunderlich war, wappnete sie sich für das anstehende Gespräch, dem sie am liebsten ausgewichen wäre. »Also wie … was … wie viel wisst ihr denn?«, fragte sie.
»Ich habe gehört, Ren hätte dich verhökert, weil er mal wieder in Schwierigkeiten gesteckt hat.«
Hände, Quetschungen, Blutergüsse, Gelächter, der eklig-süße Geruch von Crack, Stimmen, Rens Stimme, Blut. Sie ließ sich von ihren Erinnerungen überschwemmen. Ich bin nicht ertrunken, ich bin nicht zerbrochen.
Seth schaute nicht weg und wich nicht zurück.
Und sie auch nicht. In Albträumen schrie sie vielleicht, aber nicht wenn sie es in der Hand hatte, nicht wenn sie wach war.
Sie legte den Kopf in den Nacken und zwang sich, mit fester Stimme zu sprechen: »Ich hab’s überlebt.«
»Ja, das hast du.« Seths Schlüssel klimperten, als er sie schüttelte, um den Hausschlüssel zu finden. »Aber wenn wir gewusst hätten, wie schlimm alles ist, bevor Ren dich …« Er unterbrach sich und sah sie mit schmerzerfüllter Miene an. »Wir hatten ja keine Ahnung. Wir waren so beschäftigt mit … allem, und …«
Leslie wandte sich ab. Sie sagte nichts, konnte nichts sagen. Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. Die Tür ging quietschend auf, fiel aber danach nicht wieder ins Schloss, was bedeutete, dass er auf sie wartete.
Sie räusperte sich, aber in ihrer Stimme konnte man trotzdem ihre Tränen hören. »Ich komme sofort nach. Ich brauche nur eine Sekunde.«
Sie schaute kurz in seine Richtung, aber er starrte in die Leere hinter ihr.
»Ich komme sofort«, wiederholte sie.
Das Geräusch der sich langsam schließenden Tür zeigte ihr, dass er verstanden hatte.
Sie setzte sich auf den Boden vor Seths Eisenbahnwaggon und ließ ihren Blick über die Bilder auf den Außenwänden schweifen. Von Animes bis zu abstrakten Gemälden war alles dabei – ihr wurde schwindlig und die Bilder verschwammen ihr vor den Augen, als sie versuchte, die Linien darin mit den Augen zu verfolgen, sich auf die Farben zu konzentrieren, auf den Malstil, auf alles, was sie von den Erinnerungen ablenkte, denen sie sich nicht stellen wollte.
Ich habe wirklich überlebt. Ich lebe noch immer. Und es wird nie wieder passieren.
Aber es tat weh zu wissen, dass ihre Freunde, Menschen, die sie
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