Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
Strafpredigt. Ihr Bruder hätte ohne sein stählernes Rückgrat im Grenzbereich zwischen Hof der Finsternis und Sterblichenwelt nicht überlebt. Er hatte ihr beigebracht, was sie zum Überleben brauchte – und sich dabei weder von ihren nichtmenschlichen Elementen noch von Tishs sterblicher Harmlosigkeit beeinflussen lassen. Irgendwie hatte er sie beide geliebt, trotz aller Unterschiede.
»Kommst du jetzt rein oder nicht?« Rabbit stand auf der anderen Seite des Schaufensters. Sein Kinnbart war zu einem Zopf aus schwarzem und grellbuntem Haar geflochten. Die Ohrringe aus Knochen, die sie nach einer ihrer ersten Jagden mit der Meute für ihn geschnitzt hatte, steckten in seinen Ohren. Seine Klamotten waren wie üblich aus dem Secondhandshop: dunkle Hose und ein Automechanikerhemd, das ihn fälschlicherweise als Angestellten der Firma Joe’s Stop and Go auswies.
Zu Hause.
Sie legte ihre Handflächen an die Glasscheibe in der Tür und verdeckte so die Öffnungszeiten seines Ladens.
Rabbit beobachtete sie wie gewohnt schweigend. Er würde ihr später noch mehr als genug Fragen stellen. Aber in diesem Moment sah er, was sie nicht zugeben wollte: Sie hatte Angst. Ihr Bruder war derjenige gewesen, der ihr tröstende Worte zugeflüstert hatte, wenn sie schluchzend oder wütend angekommen war. Er hatte ihr beigebracht, in einer Welt zurechtzukommen, die sie verwirrte. Er hatte ihr geholfen zu erkennen, dass das, was sie anders machte als die anderen, ebenso sehr Stärken wie Schwächen waren.
Sie öffnete die Tür zum Laden, lief in seine Arme, und er drückte sie ebenso behutsam an sich wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und sie gedacht hatten, dass ihre sterblichen Anteile vielleicht überwiegen würden.
Wie bei Tish.
»Willst du mir sagen, was los ist?«
»Vielleicht.« Sie löste sich von ihm und ging zu dem roten Sessel in der gegenüberliegenden Ecke des Raums.
Rabbit drehte das Schild an der Ladentür auf GESCHLOSSEN und legte den Riegel vor. »Ich höre.«
»Ich habe Bananach getroffen.« Sie zupfte an einer losen Faser des Isolierbandes herum, das Rabbit über eine Ritze im Sesselpolster geklebt hatte, statt ihn zu flicken. »Sie will einiges von mir.«
»Sie bringt nur Ärger.« Rabbit ließ die Jalousien herunter, damit sie nicht jeder Passant dort sitzen sehen konnte, während der Laden geschlossen war.
»Bringen wir nicht eigentlich Ärger?« Ani blickte ihn an. Er sah jedenfalls so aus. Ob es nun ein Klischee war oder nicht – ihre Familienmitglieder wirkten alle so, als würden sie gern mal ein paar Regeln brechen oder großzügig auslegen. Und sie hatten sowohl gegen Gesetze der Sterblichen verstoßen als auch mit Elfentraditionen gebrochen. Er hatte sie nicht nur vor dem brutalen Kerl versteckt, der Jillian getötet hatte, sondern auch vorm Hof des Lichts und den meisten Mitgliedern des Hofs der Finsternis. Er hatte den Willen und die Freiheit der Sterblichen nicht respektiert, die er durch Tintentausch-Aktionen an den Hof der Finsternis gebunden hatte.
»Es gibt normalen Ärger, und es gibt sie .« Rabbit setzte sich im Schneidersitz auf den blitzblanken Boden des Tattoostudios. Selbst hier im Wartebereich hielt er es so sauber, wie er nur konnte. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie nachts auf diesem Boden mit Lego gespielt und gebastelt, wenn Rabbit arbeitete.
»Sie will, dass ich ein paar Dinge für sie erledige … und …« Ani faltete ihre Hände, presste sie zusammen und zwang sich dann, ihren Bruder direkt anzusehen. »Ich möchte es dir nicht erzählen.«
»Wir machen keinen Ärger nur um des Ärgers willen. Jedenfalls keinen richtigen. Es muss einen Grund geben. Das verstehst du doch, Ani, oder?« Rabbit rutschte zu ihr rüber, bis er zu ihren Füßen saß. »Ich kann jetzt, wo du am Hof bist, nicht mehr für deine Sicherheit sorgen. Du hast gezeigt, was du bist, und sie werden nicht zulassen, dass du noch mal unter Sterblichen lebst … jedenfalls die nächsten Jahre nicht.«
Sie legte trotzig den Kopf schief. »Irial vertraut mir.«
»Ja, ich auch«, erwiderte Rabbit und sah dann wütend zu Boden. Irgendjemand versuchte trotz des umgedrehten Schilds und der heruntergelassenen Jalousien die Tür zu öffnen. Er senkte seine Stimme und fügte hinzu: »Also denk gut nach, bevor du tust, worum sie dich gebeten hat.«
»Ich … ich hab Angst. Wenn ich nicht kooperiere …« Ihre Worte verklangen, während sie sich ausmalte, was passieren würde,
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