Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
berühren. »Mein hübscher Junge.«
Im Spiegel lachte Seth, als die grausam wirkende Elfe ihn böse ansah. »Hab dich!«, rief er.
»Nicht schlecht, Kleiner.« Die Elfe in dem Bild zog eine Glasscherbe aus einer langen, tiefen Schnittwunde in ihrer Schulter. »Gar nicht übel.«
Ein anderer Elf warf Seth eine Wasserflasche zu. Nur der tätowierte Arm war zu erkennen, doch auch ohne ein Gesicht zu sehen, wusste Rae, dass er zu einem anderen Kämpfer gehören musste. Seine Stimme war laut wie Donnergrollen. »Und? Schaffst du noch eine Runde gegen Chela?«
Seth schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht. Am Sommerhof ist heute eine Feier. Ash … Wir reden, und sie möchte, dass ich ihr Gesellschaft leiste.«
»Keenan?«
»Wird immer noch vermisst.« Seth lachte, schaute dann aber schnell weg, als wäre Fröhlichkeit fehl am Platze.
»Zu schade.«
»Weißt du, wo er …«
»Nicht«, unterbrach Chela ihn. »Weder Gabe noch ich sind berechtigt, dir Dinge zu erzählen, die wir für unseren König in Erfahrung bringen.«
Seth nickte. »Habe verstanden. Und? Wie hab ich heute im Kampf abgeschnitten?«
»Man sieht dir immer noch zu deutlich an, welche Bewegung du als Nächstes machen wirst«, sagte die Stimme, die vermutlich Gabe gehörte.
»Wie sieht es morgen aus?«
»Bis du wach wirst, ist es wahrscheinlich schon Abend. Wenn du richtig feierst.« Gabe kam ins Bild. Er grinste. »Nach solchen Feiern steht keiner frühmorgens wieder auf.«
Was die Elfen in diesem Spiegel sagten, fühlte sich zu klar und präzise an, um eine Erinnerung zu sein. Außerdem war es keine Szene, die mit Seths Tod endete. Das ist nicht gut . Während Rae zusah, beschlich sie der Verdacht, dass sie etwas Neues geschaffen hatte. Sie hatte es der schlafenden Elfe irgendwie ermöglicht, einen Blick in die Welt der Sterblichen zu werfen, in eine Szene, die sich in genau diesem Moment dort ereignete. Wie habe ich das gemacht?
»Ist dein Sohn nicht tot?«, fragte sie.
»Nein. Er ist in der Welt der Sterblichen.« Die Elfe wandte sich Rae zu und blickte sie mit großen Augen an. Eine durchsichtige Linse schob sich über ihre unmenschlichen Pupillen, die Rae an die Reptilien aus ihrem früheren Leben erinnerte. Elfen waren anders . Das wusste sie seit ihrem ersten Tag in deren Welt, aber es war selten so offensichtlich geworden wie in diesem Augenblick.
»Wo kommst du her?«, wollte die Elfe wissen.
»Ich bin nur ein Traum«, antwortete Rae wie schon vielen anderen schlafenden Elfen zuvor. Doch ihre bebende Stimme ließ ihre Worte unglaubwürdig klingen. »Das hier ist nur ein Traum.«
»Nein.«
»Deine Phantasie? Vielleicht hast du mich in einem Gemälde gesehen, auf irgendeinem Bild, das im Palast hängt …«
»Nein.« Die Elfe verschränkte die Arme und starrte Rae unverwandt an. »Ich kenne jedes Detail aus jedem Gemälde in meinem Palast. Du bist neu. Was du gemacht hast, war … gar nicht möglich. Ich kann die Fäden jener, mit denen ich verbunden bin, nicht sehen. Aber ich habe ihn gesehen .«
Rae erstarrte.
»Meinem Palast«? Und sie war Seherin? Sorcha.
Rae stand auf und trat einen Schritt zurück, weg von Sorcha und dem Spiegel, in dem Seth gerade eine Straße entlangging, die ganz und gar nicht so aussah, wie Rae die Welt der Sterblichen in Erinnerung hatte. Devlin wird wütend auf mich sein … wenn ich die nächsten Stunden überhaupt überlebe. Worte waren plötzlich weitaus gefährlicher, als sie es je für möglich gehalten hatte. Träume waren ihre Domäne. Hier sollte sie eigentlich in Sicherheit sein. Und allmächtig. Doch Sorcha war diejenige, die hier allmächtig war. Im Elfenreich entstand die Welt nach ihrem Willen und ihren Launen immer wieder neu, und Rae war sich nicht sicher, ob sich das auch auf Träume erstreckte.
Oder die Welt der Sterblichen.
»Wer bist du?« Sorcha erhob sich nicht vom Boden, doch auch ohne einen Thron oder andere Insignien der Macht war sie ehrfurchtgebietend. Auf dem Meer vor ihr bildeten sich turmhohe Wellen, die nicht brachen: Sie hingen in der Luft und drohten herabzustürzen, waren jedoch erstarrt. Eine Eisschicht auf dem Wasser schien die Wellen festzuhalten. Sorchas Verstand übernahm im Traum die Kontrolle über die Bilder, auf die Rae den Zugriff verlor.
Abgesehen von dem Spiegel . Er blieb vor ihr stehen, unberührt von den Eissplittern, die von den Wellen abbrachen, um wie Felsen zu Beginn eines Lawinenabgangs herabzustürzen.
»Ein Traum. Ich bin nur das
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